Rezension

Wie in einem Sog…

Bahnwärter Thiel - Gerhart Hauptmann

Bahnwärter Thiel
von Gerhart Hauptmann

Bewertet mit 5 Sternen

»Die Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem aufgewogen erhielt.«

1887, in einer kleinen Kolonie namens Schön-Schornstein an der Spree. Bahnwärter Thiel ist ein grundsolider Mensch. Zuverlässig versieht er seinen Dienst, jeden Sonntag sitzt er andächtig in der Kirche. Jedermann kennt ihn als friedlich, ordentlich, gütig und kinderlieb. Diese novellistische Studie zeigt den Weg eines solchen Mannes hin zum Wahnsinn, hin zu einem schrecklichen Verbrechen.

 

Vielen ist diese Erzählung schon als Schullektüre begegnet, ich las sie jetzt erstmals. Und las sie gleich noch ein zweites Mal, denn ich hatte das Gefühl, dass sie so dicht geschrieben ist, dass ein mehrmaliges Lesen nötig ist, um tatsächlich alle Feinheiten der Sprache und des Inhalts aufzunehmen.

 

Den Begriff „novellistische Studie“ habe ich mal nachgeschlagen. Wikipedia sagt dazu: »Mit dem Studienbegriff weist der von Hauptmann gewählte Untertitel auf die Art des Beobachtens hin und schafft den Eindruck, in der Novelle eine reale, wahre Geschichte (bzw. deren Bericht/Studie) vorliegen zu haben. Ähnlich einer wissenschaftlichen Studie wird hier vom Erzähler fast ohne eigenen Kommentar das Geschehen beschrieben.« Der Erzähler beobachtet also das Geschehen, macht uns im ersten Teil der Geschichte mit Thiel bekannt und mit den einschneidenden Erlebnissen, die den Grundstein für die später aufziehende Katastrophe legen.

 

Als Leser verfolgt man die bedrohliche Eskalation mit, ahnt schon früh, dass die immer deutlicher werdende Ausweglosigkeit auf ein schlimmes Ende hin steuern wird. Man wird Zeuge von Thiels innerem Kampf, verfolgt, wie er lange versucht, gegen das, was von ihm Besitz ergreifen will, anzukämpfen, um endlich doch zu unterliegen.

»Es war, als hielte ihn eine eiserne Faust im Nacken gepackt, so fest, dass er sich nicht bewegen konnte, sosehr er auch unter Ächzen und Stöhnen sich frei zu machen suchte.«

 

Die Erzählung zählt zu den bedeutendsten Werken des Naturalismus. Typisch dafür ist beispielsweise, dass die Handlung im Arbeitermilieu spielt, das tägliche Leben der Arbeiter, ihre Nöte und auch die Zwänge zeigt, in denen sie gefangen sind. Thiels Leben wird bestimmt durch die Eisenbahn, seine Familie, die Kirche und herrschende Moralvorstellungen. Und eine immer heftiger dominierende Triebhaftigkeit…

»Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig.«

Man kann diese Erzählung allerdings nicht ausschließlich dem Naturalismus zuordnen, einige Faktoren sprechen dagegen. Beispielsweise gibt es viele sehr schöne Naturbeschreibungen und intensive Träume und Wahnvorstellungen Thiels, die tiefe Einblicke in seine Psyche geben.

 

Mich hat die Geschichte geradezu gefesselt, ich mochte sie, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand legen. Es war ein wenig wie ein Traum, bei dem man fühlt, dass er zum Alptraum werden wird, und trotzdem befindet man sich in seinem Sog und kann nicht einfach aufwachen, kann nicht einfach den Traum beenden. Ein Werk, das ich sicher nicht zum letzten Mal gelesen habe.

 

Fazit: Schullektüre kann total fesselnd sein. Wer dieses Buch noch nicht kennt: Lesen! Und falls es aus Schulzeiten tatsächlich in unguter Erinnerung sein sollte: Es verdient eine zweite Chance!