Rezension

William James Sidis

Das Genie - Klaus Cäsar Zehrer

Das Genie
von Klaus Cäsar Zehrer

Bewertet mit 4 Sternen

Mit "Das Genie" hat Zehrer einen wirklich großartigen Debütroman vorgelegt. Es handelt sich um die Romanbiographie von William James Sidis, erst Wunderkind und dann Exzentriker. Sidis wird 1898 in New York als Sohn russischer Einwanderer geboren. Er wächst als Versuchskaninchen für die Lernmethode seines Vaters Boris Sidis auf. Schon in frühester Kindheit beherrscht er mehrere Sprachen, kann lesen, schreiben und rechnen. Mit neun hat Sidis seine Schullaufbahn beendet, mit elf Jahren beginnt er ein Studium in Harvard.
Doch nach und nach machen sich die Schwachstellen der Sidis-Methode bemerkbar. Durch die Konzentration auf Wissensvermittlung und den Mangel an Liebe und Zuwendung entstehen immer stärkere gesellschaftliche Anpassungsstörungen. Und mit wem soll sich auch ein gefeiertes Wunderkind auf Augenhöhe unterhalten? Sidis lebt zwischen Erfolgsdruck und ungehemmter Bewunderung und schon bald in seiner ganz eigenen Welt mit wenig Berührungspunkten zur Außenwelt. Er kann schon mit zehn Jahren Vorträge zur Vierten Dimension halten, aber Freundschaften zu schließen, das vermag er nicht. Viele von Sidis Verhaltensweisen lassen ein Asperger-Syndrom vermuten, eine Variante des Autismus.
Klaus Cäsar Zehrer gelingt es ebenso einfühlsam wie spannend Sidis' Lebenslauf nachzuvollziehen. Die Romanform erlaubt es ihm, die bloßen biographischen Daten auszuschmücken, die Charaktere lebendig zu machen. Dabei scheint er sich allerdings nie allzu weit vom historisch Verbürgten zu entfernen. Sidis gilt zwar nach wie vor als das größte Genie seines Jahrhunderts, aber weil er daraus nie einen Nutzen zu ziehen verstand, ist er fast völlig in Vergessenheit geraten. Zehrers Roman gewährt ihm den verständnisvollen Blick, der wohl auch zu Lebzeiten nötig gewesen wäre.
Und so entdeckt man sich dabei, durch die 645 Seiten zu rasen, die Sprache hat einen ganz eigenen Sog und es gibt nur wenige Längen, und dabei in eine andere Zeit einzutauchen. Das ist für mich das Großartige an Literatur: die Möglichkeit, andere Zeiten und Welten zu erleben, Wissen zu sammeln, im Kopf zu reisen. Und mit Klaus Cäsar Zehrer als Reiseleiter war es mir ein besonderes Vergnügen!