Rezension

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Wirklich „Unser wirkliches Leben“ oder einfach nur: "A very nice girl"

Unser wirkliches Leben -

Unser wirkliches Leben
von Imogen Crimp

Zwei Titel – das englische Original sowie der deutsche – die jeweils einen bedeutenden Teil des Romans hervorheben.

Es ist ein unaufgeregter Roman, ein ungeschönter Blick in das Leben einer Studentin, die es durch ihr Talent zu einem Stipendium an einem renommierten Konservatorium geschafft hat, um dort festzustellen, dass sie nur eine unter vielen ist, die sich ihr Leben in der Megacity London eigentlich nicht leisten kann, die ständig miese Gelegenheitsjobs oder mal mehr, mal weniger guten Gelegenheitssex hat – obwohl ihr der Typ manchmal nicht zusagt, selbst wenn sie nicht unbedingt Lust dazu hat, aber warum nicht, man ist jung, man lebt in einer unglaublichen Stadt, man sollte jeden Moment voll auskosten –, die viele Kontakte pflegt, aber eigentlich kaum jemanden kennt, die ständig schwangt, wer sie sein möchte: der zu höherem berufene, leicht wahnsinnige Typ des Künstlers, die emanzipierte Frau, Feministin? Anna ist jung und probiert sich aus und versucht herauszufinden, wer sie sein will. Vielleicht aber auch nur, weil man (wer auch immer „man“ ist?) das von ihr erwartet. Denn eigentlich lässt sie kaum ein gutes Haar an irgendwas oder irgendjemanden. Die Frage stellt sich schnell: Sagt sie vielleicht nur „ja“ und „ja, gern“ weil sie so erzogen, als Frau so sozialisiert wurde – und dabei bitte immer höflich lächeln.

Spannung – nicht die Nervenkitzel-Sorte, sondern die, die nach einem heißen Sommertag in der Luft liegt und ein schweres Gewitter androht – entsteht durch Max. Er verändert Anna, bringt sie bewusst und unbewusst dazu, Dinge zu tun, von denen Anna nicht weiß, ob sie gut findet, ob sie überhaupt tun will und was sie aus ihr eigentlich machen. Je länger die Beziehung andauert – eine Beziehung, die keiner von beiden als solche bezeichnet, während die die gestellten Erwartungen an den jeweils anderen zugleich immer größer werden –, desto mehr stellt sich die leicht nagende, kaum artikulierte Frage: Wer ist eigentlich Anna bei all diesen Personenentwürfen. Handelt sie überhaupt (noch) selbstbestimmt? – Und zwar nicht nur in Bezug auf die Beziehung, sondern auch was ihre Karriere, ihren Lebensweg betrifft. Und schnell ist man bei der Frage: Tut man eigentlich noch das, was man liebt, oder weil mein diesen Weg nun einmal eingeschlagen hat, weil es bequem ist, weil es keine Alternative gibt oder nur mit sehr großer Anstrengung und Unsicherheit verbunden.

Der Roman ist bei weitem keine leichte Sommerlektüre. Zu trist, zu düster, Annas Affäre weniger prickelnd als besorgniserregend. Doch zugleich tut er viele Abgründe auf und regt dazu an, einen kritischen Blick auf sich selbst, auf die Beziehungen, die man unterhält zu werfen, eigene Haltungen, Ansprüche der Gesellschaft, Rollenentwürfe zu hinterfragen.

Wer kein Freund davon ist, sollte den Roman nicht lesen, denn nach all dem Tristen, dem Straucheln, dem Kämpfen enttäuscht vor allem das Ende auf ganzer Linie.

3,5 Sterne für einen Roman, der mir eigentlich wirklich gefallen hat, mit vielen guten Ansätzen, der einen am Ende aber leider ziemlich frustrierend hängen lässt.