Rezension

Wunderbar!

Die Geschichte eines schönen Mädchens - Rachel Simon

Die Geschichte eines schönen Mädchens
von Rachel Simon

Amerika. 1968. Die Witwe Martha erwartet nicht mehr allzu viel vom Leben. Seit Jahren lebt sie allein auf ihrer abgelegenen Farm. Nur an Weihnachten erhält die ehemalige Lehrerin Besuch von ihren früheren Schülern. Ihr Leben verläuft ohne grosse Ereignisse, bis - ja, bis in einer stürmischen und regnerischen Nacht ein junges Paar vor ihrer Tür steht. Lynnie und Homan, geflohen aus einer Anstalt. Lynnie, eine Frau, die nur wenige Worte spricht und Homan, der taubstumme Afroamerikaner. Martha gewährt den beiden Zuflucht und entdeckt, dass die junge Frau kurz zuvor ein Baby zur Welt gebracht hat. Ihnen bleibt nicht viel Zeit. Ihre Häscher sind ihnen schon auf der Spur. Lynnie bittet die alte Dame auf ihr Baby aufzupassen. 
Während Homan über den Fluss entkommen kann, wird Lynnie zurück in die Anstalt gebracht. Die trostlose Anstalt, die sie Schule nennen. Hier ist Lynnie von ihren Eltern als Kind abgegeben worden. Lynnie, die wegen ihrer Behinderung als Schande angesehen wurde. Die Zustände in der "Schule" sind katastrophal und doch gibt es dort einen Menschen, der nicht so menschenverachtend und oft brutal handelt wie andere in dieser Einrichtung. Die Rede ist von Kate. Kate arbeitet auch in dieser Anstalt, doch sie erkennt das Potential von Lynnie. Lynnie ist künstlerisch begabt und wird heimlich von Kate gefördert. Lynnie kann Homan und ihr Baby nicht vergessen. Immer wieder muss sie an die beiden denken und oft übermannt sie der Schmerz des Verlustes. 
Homan konnte fliehen, doch sein weiteres Leben ist sehr rastlos. Er ist mal hier, mal dort, lernt unzählige Menschen kennen und fährt so quer durchs Land. Auch nach vielen Jahren ist er immer noch auf der Suche nach dem schönen Mädchen - Lynnie, deren Namen er nie erfahren hat. 
Martha hat ihr Versprechen gehalten. Sie hat sich von Stund an um das Baby gekümmert, das sie Julia nennt. Sie verlässt die Farm und wechselt ihre Aufenthaltsorte immer mit der Angst, man könnte sie und das Baby entdecken. Martha, die nie selbst Kinder hatte, entwickelt sich zu einer wunderbaren Großmutter. Sie zieht Julia groß, findet im Alter noch ihre große Liebe und ein neues Zuhause. Und sie schreibt Briefe. Briefe an Julia, die diese erst viele Jahre nach Marthas Tod in Händen halten wird. Die Briefe, in denen Martha ihr ihre Geschichte erzählt. 

"Die Geschichte eines schönen Mädchens", selten habe ich ein Buch gelesen, das so bewegt, das so anrührt und das so aufwühlt. Die Beschreibung der Zustände in der "Schule", das Leben dort, der Umgang und die schrecklichen Erlebnisse, mit denen die Bewohner zurechtkommen mussten. Behinderte Menschen, die abgegeben wurden, weil sie in der normalen Welt als Schande galten. Mir gruselt noch jetzt bei dem Gedanken. 
Und trotz all dieser Umstände geht es in diesem Roman um eine große Liebe. Um eine Liebe, die Jahrzehnte der Trennung überdauert. Ein Roman mit Lebensgefühl, bei dem man nicht mehr aufhören kann zu lesen. Ein leiser Roman, der für mich eine kleine Sensation ist. Unbedingt lesenswert!