Rezension

Wunderbare Wiederentdeckung

Vor Rehen wird gewarnt - Vicki Baum

Vor Rehen wird gewarnt
von Vicki Baum

Bewertet mit 5 Sternen

Blick hinter die Fassade

Ich kriege immer, was ich will ist das Lebensmotto von Ann Ambrose und ja, nach der Lektüre ihrer Lebensgeschichte kann man dem nur zustimmen. Der Leser begegnet Ann und ihrer Stieftochter Joy wärend einer Zugreise, es zeigt sich nach aussen das Bild einer liebenswürdigen, älteren Dame, der man gern behilflich ist. Doch hinter der Fassade erahnt der Leser schnell, dass liebenswürdig nicht der Ausdruck ist, mit dem man Ann Ambrose treffend charakterisiert.

Vici Baum nimmt uns, mit ihrer unvergleichlichen Art, Charaktere zu beschreiben, mit auf die Reise durch das Leben ihrer Hauptfigur. Wir lernen die kleine Ann kennen, die bereits früh lernt, durch Manipulation ihren Willen durchzusetzen. Die kleine Ann, die von allen immer als schwach und kränklich empfunden wird macht sich dies zu Nutze, um so die Menschen in ihrer Umgebung zu beeinflussen. Besonders zu spüren bekommt das ihre Schwester und in späteren Jahren ihre Stieftochter, aber auch der eigene Ehemann wird zu ihrem Opfer.

Die Autorin erzählt die Geschichte mit einem solchen Überschwang, ihre Beschreibungen sind opulent und üppig, der Zeitgeist der Geschichte wird so treffend erfasst. Ihre Charaktere sind auf den Punkt und zeugen von einer unglaublichen Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe. Die Geschichte wird leicht und flüssig erzählt, es ist eine Freude durch die Seiten zu schwelgen, trotz der Schicksale, die sich darin verbergen. Stellenweise habe ich mich durch das Verhalten der Hauptfigur, aber auch durch den Erzählstil stark an "Vom Winde verweht" und Scarlett O'Hara erinnert gefühlt. 

Das Buch ist ein wiederentdeckter Klassiker von einer wunderbaren Erzählerin. Die Geschichte zeigt das Bild einer Frau, geprägt durch Erziehung und Gesellschaft, der Ansehen und Prestige wichtiger sind, als das Glück ihrer Lieben. Die Geschichte zeigt eine Frau, die alles hatte, mit nichts zufrieden war und ohne Rücksicht ihr persönliches Glück über das von Anderen stellt, eine Frau, die am Ende ungeliebt und einsam mit ihren Dämonen zu kämpfen hat. Eine Frau, die ihre Liebe zum Vorwand nimmt für ihr Handel, obwohl ich mir unschlüssig bin, ob sie tatsächlich lieben kann.

Sie hat immer gekriegt, was sie wollte, am Ende ist ihr nichts davon geblieben und der Leser sieht zuletzt dann doch wieder nur die liebenswerte, hilfsbedürftige alte Dame vor sich. Grandioser Roman!