Rezension

Zeitdokument

Das Leben meiner Mutter -

Das Leben meiner Mutter
von Oskar Maria Graf

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ein mitreißendes Zeitdokument, das persönliches Leben ebenso in den Vordergrund stellt wie das politische Umfeld.

„Der Mensch, der zum ersten Mal ganz hingegeben liest, dem scheint alles Gelesene Leben zu werden, Leben der nächsten Menschen, die er kennt.“ Diese Erkenntnis scheint Oskar Maria Graf tief beeindruckt zu haben. Das Lesen wurde ihm zur Obsession, später auch das Schreiben.

In diesem Buch hat er seiner Mutter ein beeindruckendes Denkmal gesetzt. Die Zeit ihres Lebens von 1857 bis 1934 wird lebendig. Als Leser erleben wir die Zeiten von König Ludwig II. ebenso mit, wie Bismarcks Politik und Hitlers Anfänge. Das Buch geht im ersten Teil vor allem auf den Alltag der einfachen Leute rund um den Starnberger See ein. Theres, die Bauerntochter, wird nach ihrer Heirat zur „Bäckin“ (Bäckersfrau). Obwohl Max Graf gerne eine Geschäftsfrau an seiner Seite gehabt hätte, kennt sie weiterhin nur Arbeit, Aufopferung für die Familie und Unterwerfung. Sie gebiert elf Kinder, von denen drei viel zu früh sterben. Oskar ist der Zweitjüngste (* 1984 in Berg am Starnberger See + 1967 in New York) und entdeckt seine Mutter erst, als sie nach der letzten Geburt dem Sterben näher ist als dem Leben (Beginn des zweiten Teils, der einer Autobiografie des Autors sehr nahe kommt).
Was mir an diesem Buch besonders gefallen hat, war die chronisch aufeinander aufgebaute Entwicklung der Zeitgeschichte. Da liest man von Berufen, die es heute schon lange nicht mehr gibt, von der Einführung der Elektrizität, vom Auswandern nach Amerika. Graf, dessen großer Bruder so gar nichts von seiner Begeisterung für Bücher hielt, wollte ihm diese schlagend austreiben. Trotzdem blieb der seinem Vorbild Tolstoi treu und begann, in München an seiner Schriftstellerkarriere zu arbeiten.
Sehr gelungene Beschreibungen von Personen und deren Charaktere wechseln sich mit spannenderen Abschnitten ab. Doch im Großen und Ganzen ist dies ein eher ruhiges Buch, das einen tiefen Einblick in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts und das erste Drittel der vergangenen Jahrhunderts gibt. Gerade das macht es zu einem wahren Klassiker.