Rezension

Zornig und packend

She Who Became the Sun -

She Who Became the Sun
von Shelley Parker-Chan

„Wenn du fliegst, schau nicht nach unten, oder du wirst begreifen, dass du das Unmögliche tust, und abstürzen.“ 

 

Das Zitat fasst exakt das zusammen, als was ich diesen ersten Band der Dilogie empfunden habe. Als ein beständiges Wandeln am Abgrund. Wenn auch nur einer der Protagonisten einen Zeh in falsch setzt, wird er in den Abgrund stürzen. Dieser Gedanke ist die Triebkraft der Geschichte. Das Fieber. Die Vision, die für mich hinter diesem Stück historischer Fiktion steckt. Grandioser historischer Fiktion, ich sag es ganz simpel. Insbesondere die letzten Kapitel habe ich geradezu verschlungen - oder sie mich, ganz wie ihr wollt. 

 

Der Roman erzählt eine alte chinesische Legende neu. China steht unter mongolischer Herrschaft. Eine Hungersnot zieht über das Land und die Menschen sterben wie die Fliegen. Der Bruder und der Vater sterben, das Mädchen ergreift die Chance und schlüpft in die Rolle des Bruders, sie nimmt sein Schicksal an um zu überleben. Auf mongolischer Seite dient der Eunuch Ouyang dem Prinzen als General seiner Armee und ist das Zünglein an der Wage von Sieg und Niederlage. 

 

Beide Figuren hatten für mich eine ungeheure Kraft, die mich fasziniert und gleichzeitig erschreckt. Wir begleiten Zhu von Kindesbeinen an, und was zunächst scheint wie ein erzwungenes Ablegen der eigenen Identität, zieht sich das gesamte Buch hindurch. Diese „Suche“ nach ihrer eigenen in einer von Männern dominierten Welt habe ich selten so gut ausgearbeitet erlebt. Hinzu kommt noch, dass ich beständig mit Zhus Zorn konfrontiert war. Zunächst ein Funke, schafft er es, einen wilden Flächenbrand zu entzünden in der Geschichte, der mich mitgerissen hat und mich von einem Kloster bis an die Spitze eines Heeres gespült hat, immer Zhus Ziel im Blick. Sie will an die Spitze, und dabei nimmt sie auch herbe Verluste in Kauf. Ouyang hat für mich genau so eine Strahlkraft, aber auf eine gänzlich andere Art und Weise. Er muss mit Neid und Missgunst und dem ständigen Gefühl der Zerrissenheit klar kommen - seine Familie von der Familie ermordet, der er jetzt dient. Beide Protagonisten - auf verschiedenen Seiten - haben mich fasziniert, so unterschiedlich, vielschichtig und zerrissen habe ich sie wahrgenommen. Möchte sie als Freunde für Leben? Nur bedingt! Aber sie sind unglaublich spannende Figuren, die eine noch bei der Justierung der eigenen Identität, und die andere gebeugt von ihrer Entscheidung, einem Weg in den Abgrund folgend. 

 

Wir haben hier ein Stück historische Fiktion vor uns, mit vorsichtig eingestreuten fantastischen Elementen, die nicht zu erdrückend wirken. Ich mochte die Art, wie hier mit der Phantastik umgegangen wird, sehr gerne, stehen doch die geschichtlichen Aspekte im Vordergrund. 

 

Shelley-Parker Chan beschwört vor meinen Augen Sturmfluten, Klosteranlagen, Kaiserpaläste und  wilde Schwertkämpfe herauf - ich war einfach nur gebannt - mit jeder Seite ein bisschen mehr - und kann es für jeden empfehlen, der sich durch zornige Protagonisten und eine militärisch geprägte Geschichte nicht abschrecken lässt. Es erwarten euch viele Wunder und das Buch hat seine ganz eigene Ästhetik.