Rezension

Zwischen Reproduktion und Carearbeit - drei Großstädterinnen mit Hund

Das Gras auf unserer Seite -

Das Gras auf unserer Seite
von Stefanie de Velasco

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die Berlinerinnen Kessie, Grit und Charly gehen rasant auf die 50 zu und stehen sich durch ihre tägliche Hunderoute nahe. In ihrer Chatgruppe “Dogville“ sind die Dramen der Großstädterinnen  zeitnah zu verfolgen. Die aktuell wohnungslose Grit will endlich einen Roman schreiben und entdeckt die wohltuende Wirkung eines Berliner Schrebergartens. Fünf Jahre nach ihrem letzten Buch lässt sich die Ebbe in Grits Kasse auch durch Containern abgelaufener Lebensmittel nicht mehr überdecken. Wie die Mohrrübe vor der Nase des Arbeits-Esels scheint die Lösung ihrer Probleme unerreichbar; denn die Eltern ihres Partners Anno werden den Garten teuer  verkaufen – an irgendwelche Latte-Macchiato-Eltern, die sich aktuell noch auf Fernreise befinden. Im Gegenentwurf zu Grits alternativer Existenz setzt ihre Schwester Alice mit Ehe, dritter Schwangerschaft und Hundewelpen auf Kleinfamilie wie aus dem Bilderbuch.

Charly als  Schauspielerin hat die „kleinen Rollen“ und das Gemäkel der Branche an ihrer androgynen Erscheinung endgültig satt und will nicht mehr von Sozialknete leben. Die Kastration ihres rüpelhaften Rüden Bubba muss dringend vorgenommen – und bezahlt – werden.

Kessie ist derweil mit Hund Pan unterwegs in die westdeutsche Provinz, um den Umzug ihrer Mutter in ein Pflegeheim zu organisieren.  Obwohl Dolores mit Patientenverfügung und einem sicheren Platz auf der Warteliste des Heims alles richtig machen wollte, kann sie an dem Ort nicht bleiben.  Sie wird dort nichts essen, von dem das Gesundheitssystem jahrzehntelang  gepredigt hat, dass es Diabetes und Bluthochdruck verursacht! Als Kessie im Heim zufällig ihre Jugendliebe Nazim trifft, der dort seine demente Mutter besucht, treffen sich verwandte Seelen; aber Kessies Job ist nun mal in Berlin. Auch Nazims Mutter isst kaum noch, so dass er notgedrungen für sie persisch kocht. Was für eine Talentverschwendung, der Mann sollte eine Demenz-WG leiten.

Den Vogel schießt allerdings Charly ab, als ihr Schwangerschaftstest bedrohliche zwei  Streifen zeigt. In ihrem Alter liegt die Wahrscheinlichkeit schwanger zu werden unter 1%. Obwohl Grits aktueller Mitbewohner Fritz ein wandelndes Gartenbuch zu sein scheint, hilft ihr das so wenig wie Kessie ihre Erinnerung an eine harte Jugend als Einwanderkind. Auch wenn der kapriziöse Tristan betont, einem weiteren  Identitätswechsel in die Vaterrolle nicht abgeneigt zu sein, muss Charly allein über ihr Leben entscheiden.

Überschrieben mit den Phasen des weiblichen Zyklus (Menstruation, Follikelphase, Ovulation, Lutealphase, …) erzählt Stefanie de Velasco in fünf Kapiteln von einer Berliner Frauengeneration, die sich durch ihre Entscheidung für oder gegen Mutterschaft auf unterschiedliche Planeten zu katapultieren  scheint.  Ein Hund dagegen scheint dessen Halter:innen nur fester zusammenzuschmieden; Grit bleibt „Dogville“ auch nach dem Tod ihres Hundes verbunden.

Fazit

Mit einer Riesenportion Humor kitzelt de Velasco Widersprüche moderner Großstädterinnen auf Identitätssuche hervor, ohne ihren Leser:innen die Hoffnung auf alternative Formen des Zusammenlebens zu nehmen.