Rezension

Zwischen Splatter und Gesellschaftsanalyse

In der Misosuppe
von Ryu Murakami

Bewertet mit 4 Sternen

Ryu Murakami ist den meisten Lesern vor allem bekannt durch seine Buchvorlage zum Horrorfilm "Audition". Auch "In der Misosuppe" wartet mit brutalen Splatter-Einlagen, hat darüber hinaus aber noch viel mehr zu bieten. Bereits der Titel zeigt auf, dass sich Murakami an eine japanische Gesellschaftsanalyse wagt.

Der Roman spielt durchgängig im Rotlichtviertel Tokios. Kenji arbeitet hier als sogenannter Nightlife-Guide. Er führt Touristen durch das Viertel, übersetzt die Wünsche seiner Kunden und zeigt ihnen die besten Orte für die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche. Eigentlich wollte Kenji die letzten Tage des Jahres mit seiner Freundin Jun verbringen, doch nun bekommt er spontan einen Auftrag vom amerikanischen Touristen Frank, der bereits im Voraus bezahlt. Doch als er Frank durch das zwielichtige Tokio führt, überkommt Kenji immer mehr das Gefühl, dass mit dem angeblichen Heizungsimporteur aus Übersee etwas nicht stimmt. Wie schlimm es noch werden wird, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.

Im Prinzip unterliegen dem Werk Murakamis zwei Ebenen. Auf der Oberfläche handelt es sich um einen gut komponierten Thriller, dessen elektrisierende Spannung den Leser sofort in den Bann zieht und ein schauriges Entsetzen hervorruft. Bei der Lektüre fallen sofort Parallelen zu Bret Easton Ellis American Psycho oder dem Film Collateral auf. Immer tiefer lässt uns der Autor in die gestörte Psyche Franks schauen, bis sich in der Mitte des Romans der Druck der Wartungen in einer entsetzlichen Gewaltorgie entlädt. Ob die sehr explizit beschriebenen Grausamkeiten, die allzu oft in japanischer Gegenwartsliteratur ihren Ausdruck erhalten, wirklich nötig sind, muss der Leser für sich selbst entscheiden. Es wird genug Leute geben, die sich daran stoßen können. Allerdings wirken die Splatter-Einlagen in Bezug auf den Gesamtzusammenhang des Romans nur konsequent und können als widerlicher Höhepunkt eines Aufeinandertreffens verschiedener Weltanschauungen gelesen werden.

Genau dieser Punkt führt zu der zweiten Ebene des Werkes. Abgesehen von den Thriller-Elementen, die den Text überspannen, zeichnen sich auch weitere Bedeutungsebenen ab. Murakami fährt mit einer gekonnten Gesellschaftsanalyse Japans auf – dies vor allem immer in Bezug auf Fremdheit und Verlassenheit. Kenji führt seine Kunden durch die dunklen Straßen Tokios und dadurch auch in die Abgründe der japanischen Seele. Den abstoßenden Gepflogenheiten im Rotlichtviertel entgegnen die meisten Figuren im Roman mit Coolness oder Ungerührtheit. Leere, Einsamkeit und Abgestumpftheit prägen das Bild. Die Absurditäten sind nicht greifbar, die Rohheit nicht spürbar. Frank ist es, der mit seinem – gewiss sehr zweifehlhaften – Verhalten die Oberflächlichkeit aufbricht und das Absurde zum Vorschein bringt.

Dennoch bleiben weder das Entsetzen noch die Leere im Zentrum der Überlegungen. Der Autor scheint einen Ausweg aus der kaltblütigen und radikalen Abgestumpftheit zu weisen. Denn es gibt sehr wohl Orte der Wärme und Milde im Roman. Diese zeigen sich immer dann, wenn Murikami uns die Kultur Japans vor Augen hält – sei es durch das Begehen traditioneller Riten zum Neujahr oder eben durch ein japanisches Nationalgericht, die Miso-Suppe. Eine Suppe, die Frank fasziniert „mit ihrer sonderbaren braunen Farbe. Sie riecht ein bisschen wie menschlicher Schweiß, nicht? Zugleich wirkt sie raffiniert und delikat. Ich bin nach Japan gekommen, weil ich mich fragte, wie Menschen, die eine solche Suppe täglich essen, wohl sein mögen.“ Diese Beschreibung zeigt, was uns In der Misosuppe – auch aus westlicher Sicht – zu bieten hat: Eine etwas andere Perspektive.