Buch

John Flack - Edgar Wallace

John Flack

von Edgar Wallace

Ehrlich gesagt - es ist ungehörig, wenn nicht sogar gesetzwidrig, daß die wenigen Personen, die das traurige Vorrecht besitzen, im Irrengefängnis von Broadmoor aus- und eingehen zu können, auf irgendeinen auffallenden Insassen besonders aufmerksam gemacht werden. Wenn es vorkommt, handelt es sich dabei fast immer um denselben Mann; einen Mann, der sehr berüchtigt gewesen war und dessen Verbrechen ganz England in höchster Spannung gehalten hatten, bis Gerichtsärzte und Gerichtshof ihn nach diesem Platz ohne Hoffnung verbannten.

Am häufigsten wurde also auf diesen John Flack hingewiesen; meist wenn er gerade über den Gefängnishof schlich, die Hände auf dem Rücken, das Kinn auf die Brust gesenkt, ein langer, dürrer, alter Mann in einem schlechtsitzenden Anzug aus grauem Stoff, der mit niemand ein Wort wechselte.

„Das ist John Flack. Der Flack. Der gerissenste Verbrecher der Welt. ,Klaps-John-Flack‘. Neun Morde.“

Gefangene, die wegen Totschlags in Broadmoor gehalten wurden, waren in ihren seltenen klaren Augenblicken stolz auf den alten John. Die Beamten, die ihn für die Nacht einschlossen und während seines Schlafs beobachteten, hatten wenig zu seinen Ungunsten zu sagen. Niemals gab er Veranlassung zu irgendeiner Störung, und in all den sechs Jahren seiner Gefangenschaft hatte er nicht einmal einen jener Tobsuchtsanfälle gehabt, die so oft einen armen unbeteiligten Teufel ins Krankenhaus und den rasenden Übeltäter selbst in eine Gummizelle bringen.

Die meiste Zeit verbrachte er mit Schreiben und Lesen. Er war ein Künstler mit der Feder, und er schrieb mit außerordentlicher Geschwindigkeit. Hunderte von kleinen Schulheften hatte er mit einer großen Abhandlung über „Verbrechen“ angefüllt. Der Gefängnisdirektor ließ ihm seinen Willen und erlaubte ihm, seine Hefte zu behalten, in der Hoffnung, diese zu gegebener Zeit seinem bereits sehr interessanten Museum einverleiben zu können.

Einmal gab ihm der alte Flack - es war ein außerordentliches Zugeständnis - eines seiner Hefte zu lesen, und der Direktor las und schnappte nach Luft. Der Titel lautete: „Wie raube ich ein Bankgewölbe aus, wenn nur zwei Wächter Dienst haben.“ Der Direktor, ein ehemaliger Militär, las und las, hielt zeitweise inne und kratzte sich verblüfft hinter den Ohren; dies Schriftstück in der sauberen, deutlichen Handschrift John Flacks erinnerte ihn lebhaft an einen Divisionsbefehl zum Angriff. Keine noch so unbedeutende Kleinigkeit war übersehen, jedem möglichen Zwischenfall war Rechnung getragen. Es war nicht nur die Zusammensetzung des Betäubungsmittels angegeben, das gebraucht werden sollte, um „den Außenwächter unschädlich zu machen“, es war sogar eine weitere Fußnote beigefügt, die hier wörtlich angeführt werden mag:

Sollte das Betäubungsmittel nicht zu erhalten sein, rate ich, einen Vorstadtdoktor aufzusuchen und ihm folgende Krankheitserscheinungen anzugeben. Der Arzt wird dann das gewünschte Betäubungsmittel in verdünntem Zustand verschreiben. Man verschaffe sich sechs Flaschen von dieser Medizin und wende dann folgende Methode an, um das gewünschte Betäubungsmittel auszuscheiden.

'Haben Sie viel von dieser Sorte geschrieben, Flack?“ fragte der Beamte erstaunt.

„Warum?“ John Flack zuckte seine mageren Schultern. „Das mache ich zu meinem Vergnügen, bloß um mein Gedächtnis zu üben. Ich habe schon dreiundsechzig Bücher über das gleiche Thema geschrieben und finde keine Verbesserung mehr. Während der ganzen sechs Jahre, die ich nun hier bin, habe ich auch nicht eine einzige Verbesserung meines alten Systems austüfteln können.“

Scherzte er? War das ein Produkt eines kranken Gehirns? Der Direktor, wie sehr er auch an seine Pfleglinge und deren Eigenarten gewöhnt war, konnte sich über John Flack keine klare Meinung bilden.

„Wollen Sie vielleicht sagen, Sie haben ein Lexikon über Verbrechen geschrieben?“ fragte er ungläubig. „Wo ist es?“

Statt jeder Antwort verzogen sich Flacks schmale Lippen zu einem höhnischen Lächeln.

Dreiundsechzig handgeschriebene Bände stellten das Lebenswerk John Flacks dar. Es war eine Leistung, auf die er sehr stolz war.

Als bei einer anderen Gelegenheit der Direktor wieder auf seine außergewöhnlichen schriftstellerischen Arbeiten anspielte, sagte er: „Ich habe damit ein großes Vermögen in die Hände eines geschickten Mannes gelegt - vorausgesetzt natürlich“, fügte er nachdenklich hinzu, „daß er ein resoluter Kerl ist und daß die Bücher bald in seine Hände kommen. In diesen Tagen wissenschaftlicher Entdeckungen ist, was heute neu ist, morgen schon überholt.“

Der Direktor hatte seine Zweifel an dem Vorhandensein dieser gefährlichen Bücher, mußte aber kurze Zeit nach dieser Unterhaltung seine Ansicht berichtigen. Scotland Yard, wo man selten, wenn überhaupt jemals, Phantomen nachjagt, sandte Oberinspektor Simpson, einen Mann ohne jede Phantasie - der diesem Umstand auch seine Beförderung verdankte. Seine Unterredung mit „Klaps-John-Flack“ war sehr kurz.

„Es handelt sich um deine Bücher, Flack“, sagte er, „es wäre bedauerlich, wenn sie in die falschen Hände fallen würden. Ravini sagt, du hast fast hundert Bücher irgendwo versteckt.“

„Ravini?“ Der alte John Flack fletschte die Zähne. „Hören Sie mal, Simpson! Sie glauben doch nicht etwa, daß Sie mich mein ganzes Leben lang an diesem verwünschten Platz festhalten können? Oder.? Dann irren Sie sich nämlich verdammt. In irgendeiner Nacht verschwinde ich stillschweigend - Sie können das dem Direktor erzählen, wenn Sie wollen -, und dann werde ich mal mit Ravini unter vier Augen sprechen.“

Seine Stimme wurde laut und kreischend, und das alte irre Flackern, das Simpson schon von früher kannte, erschien wieder in seinen Augen.

„Haben Sie jemals Tagträume, Simpson? Ich habe drei. Ich habe eine neue Methode herausgefunden, um mit einer Million verschwinden zu können. Das ist Nummer eins, ist aber nicht so wichtig. Nummer zwei hat mit Reeder zu tun. Meinetwegen können Sie J. G. alles wiedererzählen. Ich träume davon, daß ich ihn mal treffe - allein - in einer netten, dunklen, nebligen Nacht, wenn die Schutzleute nicht sagen können, aus welcher Richtung die Schreie kommen. Und mein dritter Traum befaßt sich mit Ravini. George Ravini hat eine Chance, und die ist, er stirbt, bevor ich hier rauskomme.“

„Du bist verrückt“, entfuhr es Simpson.

„Darum bin ich ja hier“, erwiderte John Flack.

Diese Unterhaltung und die mit dem Direktor waren die beiden längsten, die er im Lauf der sechs Jahre in Broadmoor geführt hatte. Wenn er nicht schrieb, schlenderte er durch die Gefängnisanlagen, das Kinn auf der Brust, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Manchmal kam er während dieser Wanderungen in die Nähe der hohen Umfassungsmauer, und man munkelte, daß er Briefe hinüberwarf. Wahrscheinlich hatte er einen Boten gefunden, der seine zahlreichen chiffrierten Briefe in die Außenwelt beförderte und kurze Antworten zurückbrachte. Er war sehr gut Freund mit dem Aufsichtsbeamten seiner Abteilung, und eines Tages wurde dieser mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Das Tor der Abteilung stand weit offen, und John Flack war in die Welt zurückgekehrt, um seine Tagträume zu verwirklichen.

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Krimis Thriller
Sprache:
deutsch
Umfang:
205 Seiten
ISBN:
9783954480203
Erschienen:
April 2012
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Ravi Ravendro
8
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 4 (1 Bewertung)

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