Buch

Eldorin - Gaby Wohlrab

Eldorin

von Gaby Wohlrab

Die Hunde spürten es als Erste und suchten mit eingezogenem Schwanz Zuflucht. Dann riefen die Menschen eilends nach ihren Kindern, zerrten sie ins Haus und schlugen die Türen zu. Die Nixen tauchten tief in den Sanguin ein, in der Hoffnung, diese dunkle Erscheinung möge an ihnen vorüberziehen. Es wirkte, als hätte man das Blau des Himmels mit schwarzer Tusche getränkt. Der Fleck vergrößerte sich rasend schnell. Der kleine Junge hatte mit seinem Großvater am Fluss gespielt, und nun waren sie hinter einem Felsen am Ufer in Deckung gegangen. Sie kauerten sich zitternd auf den Boden, und der alte Mann gab ihm ein Zeichen, keinen Laut von sich zu geben. Ein nicht enden wollendes, grässliches Kreischen aus rauen Kehlen ertönte. Das grauenvolle Geräusch machte den Eindruck, von überall her zu kommen, und jetzt schrien auch die Menschen. Der Kleine hielt sich verzweifelt die Ohren zu und schloss die Augen. Als es endlich still wurde und er sie wieder öffnete, war das Wasser des Sanguin blutrot. Jede Jahreszeit hat ihren eigenen Geruch, dessen wurde sich Maya bewusst, als sie erwachte. Sie lag neben ihrer besten Freundin Fiona im Bett des Elfenhauses hoch oben im Baumwipfel der uralten Linde. Die Klarheit des frühen Sommers umgab sie. Es hatte geregnet in der Nacht, und die Luft war erfüllt von dem frischen, würzigen Duft des Waldes von Eldorin. Ein Zauber schützte die Häuser der Elfen, sodass sie kein Dach benötigten, und das Mädchen blickte direkt in das Astgewirr über sich. Die warme Sonne drang schräg hindurch und ließ die Regentropfen in allen Farben glitzern; sie perlten von den durchscheinenden Blättern des mächtigen Baumes, fielen herab und schienen sich plötzlich in Luft aufzulösen. Maya strich sich eine braune Strähne ihres langen Haares aus der Stirn, streckte sich zufrieden und sah eine Weile einer winzigen Glimmerfee zu, die glucksend auf einer Ranke der weiß blühenden Clematis schaukelte, die die Linde erklommen hatte. Der Unterschied zu dem schrecklichen Waisenhaus in der Menschenwelt, in dem sie die fünfzehn Jahre ihres bisherigen Lebens verbracht hatte, hätte nicht krasser sein können. Sie schlug die seidenweiche Bettdecke zurück und kroch an den Rand des geräumigen, mit prachtvollen Schnitzereien verzierten Bettes. Von Fiona waren lediglich wirre rote Locken zu erkennen, da sie sich unter der Decke wie eine Haselmaus zusammengeringelt hatte. Maya beschloss, sie noch ein wenig schlafen zu lassen, glitt aus dem Bett und tappte mit nackten Füßen ins angrenzende Badezimmer. In Windeseile machte sie sich fertig, da sie annahm, Larin auf der Veranda anzutreffen, wo er normalerweise mit ihnen frühstückte. Sie war Waltraud und Wilbur dankbar, dass sie sich nicht beschwerten, ihren Pflegesohn so selten zu Gesicht zu bekommen, zumal sie erst vor wenigen Tagen aus dem Nebelwald zurückgekehrt waren. Besonders für Waltraud waren die Geschehnisse ein Schock gewesen. Sie hatte immer um die Gefahr gewusst, in der Larin schwebte. Der Schattenfürst musste das Königsgeschlecht Amadur auslöschen, um die vorhergesagte Geburt des künftigen Friedenskönigs zu verhindern. Bereits als kleines Kind war Larin dem Massaker an seiner Familie nur knapp entronnen, und nun war ein weiterer Albtraum wahr geworden: Er hatte dem Schattenfürsten gegenübergestanden. Dass er hatte entkommen können, grenzte an ein Wunder. So überraschte es nicht, dass Waltraud Larin gebeten hatte, er möge wenigstens zum Übernachten nach Hause kommen, und er hatte ihr diesen Wunsch erfüllt. Max hatte Larins Abwesenheit prompt schamlos ausgenutzt und in ihr gemeinsames Zimmer in der Linde einen tarnfarbenen Molluskenschleimer geschleppt. Er war ziemlich schnell aufgeflogen, da das Weichtier ihm nachts übers Gesicht gekrochen war und der blaue Schleim äußert hartnäckig haften blieb. Um Fiona nicht zu wecken, schlich sie sich leise aus dem Zimmer und sprang die Treppe hinunter, durchquerte Speise- und Wohnzimmer und trat hinaus auf die Veranda hoch oben in den Astgabeln der knorrigen Linde, wo Larin bereits an dem großen Esstisch saß und auf sie wartete. Außer ihm waren Luna und Anais anwesend und natürlich ihre Söhne Stelláris und der fünfjährige Elysander, der eindeutig die nachtschwarzen Haare und tiefdunklen Augen seiner schönen Mutter geerbt hatte, während Stelláris nach seinem Vater kam, dessen silberhelles Haar wie Mondlicht glänzte. 'Guten Morgen.' Maya strahlte in die Runde. Die Elfen wandten ihr lächelnd ihre makellosen, ebenmäßigen Gesichter zu. 'Gesegnet sei dein Tag', erwiderte Anais. Maya nahm neben Larin Platz, und er begrüßte sie mit einem flüchtigen Kuss. Ein wenig verlegen schob sie sich eine ihrer Locken hinters Ohr. Die Gefühle, die er in ihr hervorrief, waren immer noch ungewohnt für sie, und sie konnte einfach nicht anders, als ihn fasziniert zu betrachten. Zwar war es für Menschen unmöglich, das perfekte Aussehen der Elfen zu besitzen, aber Larin sah ihnen auf eine gewisse Weise ähnlich. Sein Haar war von ebenso tiefschwarzer Farbe, er hatte verwirrend schöne dunkelbraune Augen und ein außergewöhnlich hübsches, schmales Gesicht mit einer geraden Nase und feingeschwungenen Lippen. 'Was?' Maya blinzelte verdutzt, denn er hatte sie mit dem Ellbogen leicht angestupst. 'Anais hat dich etwas gefragt.' Belustigung schwang in seiner Stimme mit. 'Oh, Entschuldigung', stotterte sie und bemerkte, dass Anais amüsiert eine Augenbraue nach oben gezogen hatte. Geduldig wiederholte er seine Worte und brachte mit seinem Vorschlag Maya zum Strahlen. 'Du würdest wirklich einen passenden Bogen für uns heraussuchen?' Tags zuvor hatte sie sich mit Stelláris über das Bogenschießen unterhalten, und sie hatte lediglich erwähnt, wie gerne sie es lernen würde. Nie hätte sie damit gerechnet, dass Anais sich so rasch darum kümmern würde. Vom Waisenhaus her war sie es nicht gewohnt, dass sich jemand für ihre Wünsche oder Träume interessierte. 'Ich bin noch zu klein.' Elysander blickte missmutig drein. 'Papa sagt, ich kann die Sehne nicht spannen. Wenn ich groß bin, erlege ich einen Höhlentroll!' Er tat so, als würde er einen Pfeil von der Sehne schnellen lassen. 'Ich bin dabei!' Max hatte den imaginären Schuss noch mitbekommen und warf sich auf einen Stuhl. Er sah aus, als hätte er es nach dem Aufstehen äußerst eilig gehabt, auf die Veranda zu gelangen. Sein stets verstrubbeltes dunkelblondes Haar stand noch wilder als sonst nach allen Seiten ab, und er trug das Oberteil falsch herum mit den Nähten nach außen. Quer über die Stirn lief ein Schmutzstreifen, der wohl noch von dem misslungenen Unterfangen des vergangenen Abends stammte, einen der kleinen, pelzigen Farnwichte aus einem ihrer Gänge zu graben. 'Hmmm, Waldbeertörtchen!' Er stopfte sich ein halbes in den Mund. 'Darf ich daf auch? Bogenfiefen?' 'Falls du den Mund freibekommst', meinte Larin. 'Stelláris und ich werden es euch beibringen. Wenn ihr Lust habt, können wir es heute Nachmittag mal versuchen. Du kannst meinen alten Bogen haben, der müsste für deine Größe passen.' Er beugte sich zu Max vor und raunte ihm zu: '… und sofern du von Fiona bis dahin nicht zwangsgebadet werden willst, rate ich dir, die Erde aus dem Gesicht zu waschen.' Max grinste breit, was wegen der Törtchenhälfte im Mund nicht ratsam war. Hastig würgte er sie hinunter und wischte sich die Krümel vom Hemd. 'Wird erledigt! Aber … zeigst du mir das Bogenschießen schon heute Vormittag? Nur mir allein?' Vor Aufregung bekam er ganz rote Ohren. 'Bitte! Grad haben die Sommerferien angefangen!' Er hielt einen Moment lang inne. 'Na schön, Zauberkunst bei Herrn Frankenberg ist cool.' Larin sah zu seiner Freundin hinüber. 'Eigentlich wollten Maya und ich …' 'Schon in Ordnung', erklärte Maya. 'Also gut', willigte Larin nach kurzem Zögern ein. 'Gleich nach dem Frühstück holen wir meinen alten Bogen. Aber nur für eine Stunde.' Maya nickte Larin dankbar zu. Sie bedauerte es ebenso sehr wie er, dass sie wieder keine Gelegenheit hatten, endlich einmal Zeit füreinander zu finden. Aber sie wusste, dass Max sich zurückgesetzt und vermutlich ziemlich überflüssig fühlte. Obwohl Max mit seinen dreizehn Jahren um einiges jünger war als Fiona und sie, waren sie immer unzertrennlich gewesen. 'Tut mir leid, ich habe verschlafen …' Ein wenig schuldbewusst trat Fiona aus der Tür und ließ sich neben Stelláris nieder. Maya schmunzelte in sich hinein, als sie bemerkte, wie fasziniert der junge Elf sie betrachtete. Das warme Sonnenlicht, das unregelmäßig durch die Blätter fiel, tanzte in ihren roten Locken und ließ sie leuchten, sodass sie ein bisschen wie Feuerzungen wirkten. Maya wusste, dass Elfen mit Gefühlsäußerungen zurückhaltender waren als Menschen, weshalb sie sich nicht wunderte, dass Stelláris Fiona nicht zur Begrüßung küsste. Allerdings sah er aus, als würde es ihm schwerfallen, es nicht zu tun. 'Du kannst so lange schlafen, wie du möchtest.' Luna lächelte Fiona liebevoll zu. 'Wenn erst das Fest Sha-alil beginnt, werdet ihr nicht viel zum Ausruhen kommen. Es wird diesmal bei den Wasserelfen in Nardis stattfinden.' 'Sha-alil!' Maya bekam glänzende Augen. 'Haben die Elfen, die im Nebelwald geblieben sind, schon etwas über die Bergelfen herausgefunden?' 'Sie sandten uns eine Taube mit der Nachricht, dass sie Kontakt zu ihnen aufnehmen konnten', antwortete Luna. 'Die Bergelfen, die die Drachen hüteten, vertrauten ihnen tatsächlich den Aufenthaltsort der letzten Überlebenden ihres Volkes an. Einst war ihre Heimat die trutzige Felsenstadt Nebron auf dem sonnenbeschienenen höchsten Gipfel des Ebulongebirges. Doch nun ist sie fern davon jenseits des Nebelgebirges im Osten zu suchen. Es ist gut, dass das Fest erst in knapp einem Monat losgeht. Für die Unsrigen ist es ein weiter Weg bis zu dem Exil und schließlich zurück nach Eldorin. Dazu kommt die zweitägige Reise zum Wasserelfenreich Nardis, das südlich von uns liegt. Die Spanne von vier Wochen benötigen wir dringend. Wir können Sha-alil nicht verschieben. Es fängt seit ewigen Zeiten zum ersten vollen Mond im Juli an. Diesmal wird der Monat bereits am Vergehen sein, wenn die helle Nacht beginnt.' Maya wusste, wie wichtig die Aussöhnung mit den Bergelfen war. Die Macht der Elfen schwand durch Uneinigkeit. Der Feind hatte dieses Wissen zu seinem Vorteil benutzt, indem er die Bergelfen durch eine List zu seinen Verbündeten gemacht hatte. Nun richtete Anais das Wort an Larin. 'Ich hatte vorhin ein Gespräch mit deinen Pflegeeltern. Waltraud und Wilbur sind der verständlichen Meinung, dass es für dich äußerst gefährlich ist, zu den Wasserelfen zu reisen …' 'Das ist jetzt nicht deren Ernst!', unterbrach Larin erschrocken. 'Erwarten sie etwa, dass ich zu Hause bleibe?' 'Sie sorgen sich', beschwichtigte Anais. 'Und sie sind überaus unsicher, was das Richtige für dich ist. Für deine Reise nach Nardis spricht, dass nur die Menschen und die Zwerge während des Festes in Eldorin bleiben. Die Tradition erfordert, dass wir als geschlossene Gemeinschaft am Sha-alil teilnehmen. Das ist umso wichtiger, sollten die Bergelfen erscheinen. Wir müssen alles vermeiden, was sie beleidigen könnte. Der Zauber, der unsere Grenzen bewahrt, ist immer noch stark, stärker als der, der Nardis umgibt – dennoch widerstrebt es uns, dich ohne zusätzlichen Schutz in Eldorin zurückzulassen. Waltraud und Wilbur wollen letztendlich dir die Entscheidung überlassen.' Luna sah Larin mit ihren fast nachtschwarzen Augen an. 'Du bist nicht an die Tradition unseres Volkes gebunden. Wir richten uns nach deinem Wunsch. Ich vermag nicht zu sagen, wo wir dich besser schützen können.' Leise fügte sie hinzu: 'Der Schattenfürst benötigt nach wie vor dein Blut. Und seine Herrschaft würde durch den zukünftigen Friedenskönig ein Ende finden. Er wird niemals aufgeben, dich zu jagen.' 'Gut, dass er von Maya nichts weiß. Oder von Leon', erklärte Larin überzeugt. Dann zog er missmutig die schwarzen Augenbrauen zusammen. 'Ich würde schon wegen der Bergelfen hingehen wollen. Ronan kennt mich. Na ja, auch wenn er vielleicht mehr Wert drauf legt, dass er Maya wiedersieht. Sie hat ihn ziemlich umgehauen.' Er zwinkerte seiner Freundin zu. 'In jeder Hinsicht.' Maya wurde prompt rot. 'Blödsinn … Oh nein, erinnere mich bloß nicht … Außerdem gehe ich nicht zum Fest ohne dich.' 'Danke. Aber wir gehen beide, keine Frage.' 'Ronan wird zweifellos, sollten die Bergelfen am Fest teilnehmen, euer Erscheinen wünschen', warf Anais ein. 'Ihr habt ihm im Nebelgebirge das Leben gerettet; das ist ein nicht zu unterschätzender Pluspunkt. Eure Anwesenheit kann den Friedensprozess beschleunigen.' 'Hoffentlich findet sein Onkel das auch', murmelte Larin. 'Wir haben den halben Berg in die Luft gejagt und somit sein Zuhause eingeäschert. So was hinterlässt normalerweise einen schlechten Eindruck.' Stelláris lachte, und seine leicht schräggestellten grünen Augen blitzten. 'Ich würde Sha-alil nur ungern verpassen. Es wäre das erste Mal, dass ich es bewusst erlebe; das letzte Fest liegt siebzehn Jahre zurück. Allerdings bleibe ich mit dir in Eldorin, solltest du dich hierzu entscheiden. Aber wir werden einen Weg finden, heil hinzukommen.' 'Ja.' Luna nickte. 'Das denke ich ebenfalls. Ich habe bereits eine Ahnung, wie es gelingen könnte – ich muss nur unbedingt Gormack sprechen', setzte sie etwas rätselhaft hinzu. 'Doch nun entschuldigt mich. Ich werde in einer Stunde aufbrechen. Es ist wichtig, der Spur Leons zu folgen, solange wir unsere Grenzen ohne Schwierigkeiten passieren können. Das könnte sich bald ändern.' 'Du gehst durch das Tor der Wächter?', fragte Maya gespannt. 'Ja. Ihr wisst, dass ich in eurem Land etwas über seinen Verbleib erfuhr, als ich mich auf die Suche nach deiner Herkunft machte, Maya. Wenn Leon noch lebt, muss er die Möglichkeit haben, hierher zurückzukommen. Er ist der direkte Erbe der Krone des Königreiches Amadur.' 'Und ich muss mich später mal nicht auf einen Thron setzen.' Larin streckte die langen Beine bequem aus und grinste. 'Weil er in der Rangfolge über mir steht, was ihn mir sehr sympathisch macht. Sag ihm, falls er nicht freiwillig mitkommt, hole ich ihn.' 'Er wäre schön blöd, wenn er nicht hierher käme.' Max verscheuchte eine kleine Glimmerfee von dem letzten Schaumtörtchen und schnappte es sich selbst. Die winzige Fee warf ihm einen empörten Blick zu und flatterte dicht an seinem Ohr vorbei. 'He!' Max fuhr sich übers Ohr. 'Das Biest hat mir tatsächlich eine Brombeere ins Ohr gesteckt! Eh, das klebt!' Fiona kicherte. 'Fällt fast nicht auf. Wieso schaut dein Gesicht eigentlich immer noch so wüst aus? Das ist ein richtiges Muster! Wie kriegst du das bloß hin?' 'Ich vermute, ich hab einfach Glück', merkte Max bescheiden an. Fiona verdrehte die Augen. 'Hey, ich hab dir gestern doch extra ein Bad eingelassen! Bist du etwa nur durch die Wanne gelaufen?' 'Quatsch, ich war drin bis zum Hals!', protestierte Max. 'Aber ich bin nicht untergetaucht.' Über eine Stunde später saß Maya mit Larin im Zimmer der Mädchen. Viel lieber wäre sie mit ihm durch den Elfenwald mit seinen sanft flüsternden Blättern gestreift, doch sie wusste, dass man sie nicht in Ruhe lassen würde. Zwar waren die Elfen höflich und zurückhaltend, nur leider schien sich die halbe Menschensiedlung in der Nähe herumzutreiben. Es herrschte eine unglaubliche Begeisterung, weil es ihnen gelungen war, das Elixier zu vernichten, mit dem sich der Schattenfürst in ein unsterbliches Wesen hatte verwandeln wollen. Maya hatte sich zu ihrem Freund auf das Sofa gekuschelt und bequem die Beine hochgezogen. Sie hatten sich gegenseitig aus ihrem Leben erzählt, das jeweils so anders verlaufen war und doch ähnlich, weil sie beide ohne die eigenen Eltern aufgewachsen waren. Fiona war in Stelláris’ Zimmer verschwunden und vermutlich ebenfalls glücklich, dass sie dort von niemandem ausgefragt werden konnte. 'Urgh', ertönte plötzlich eine Stimme ganz in der Nähe. Maya und Larin fuhren auseinander. Max stand mit in die Hüften gestemmten Armen vor dem Sofa und blickte die beiden missbilligend an. 'Ich finde das echt ätzend, wisst ihr? Ich war gerade bei Stelláris. Ihm und Fiona fällt auch nichts Besseres ein als rumzuknutschen. Eigentlich wollte ich fragen, ob jemand Lust auf einen Ausritt hat. Aber sie sahen so aus, als würde ich stören. Es nervt!' Maya rutschte schuldbewusst ein Stück von Larin weg. Max wirkte so frustriert, dass sie tatsächlich ein schlechtes Gewissen bekam. Bevor sie antworten konnte, hüpfte Elysander zur Tür herein. In der Hand schwenkte er zwei handgroße Spielfiguren. 'Max, schau, die hier habe ich geschenkt bekommen! Ich habe meine ganze Waldanlage auf der Veranda aufgebaut. Magst du mit mir spielen? Du darfst sogar eine von den neuen nehmen.' Er wedelte ihm mit einem silberhaarigen Elf und einer Menschenfrau vor der Nase herum. Max sandte einen kurzen Blick zum Himmel. Hoffentlich ließ sich Elysander beim Spielen nicht vom Vorbild seines Bruders und Fionas beeinflussen. 'Nee', entgegnete er schärfer als beabsichtigt und betrachtete finster die beiden Nachbildungen in Elysanders Hand. Das Haar des männlichen Elfs war wie das von Stelláris glatt und silberfarben, während die Menschenfrau rote Ringellocken besaß und auch sonst Fiona verdächtig ähnlich sah. 'Das heißt, ich spiele schon mit', setzte er rasch hinzu, 'aber ich nehme lieber die Trolle.' Das erschien ihm unbedenklicher. Trolle küssten sich nicht. Zumindest hoffte er das inständig. Möglicherweise konnte man die Rothaarige unauffällig wieder in der Spielkiste verschwinden lassen. Notfalls wurde sie einfach von einem Troll ausgeschaltet. 'Okay. Hauen wir ab.' Larin ergriff die Gelegenheit, Maya abermals an sich zu ziehen. 'Wir reiten nach dem Mittagessen aus, in Ordnung?', rief er Max hinterher. Als Antwort erhielt er ein Grunzen, und die Tür flog zu. 'Der Arme', seufzte Maya. 'Es ist wirklich nicht gerade toll für ihn.' 'Hmmm.' 'Ich meine, erst war er nur mit Fiona und mir befreundet, und dann muss er uns auf einmal mit Stelláris und dir teilen. Ich glaube, er fühlt sich zurückgesetzt.' Larin zuckte die Schultern. Er war nicht in der Stimmung für eine Diskussion über Max’ Befinden. 'Vielleicht ist er eifersüchtig', überlegte Maya. 'Glaub ich nicht', murmelte Larin und strich Maya zärtlich eine vorwitzige Haarlocke aus dem Gesicht. 'Wer weiß?' Maya runzelte die Stirn. Sie fand es schwierig, sich auf ihre Argumente zu besinnen, wenn Larin sie so ansah. Sie holte tief Luft. 'Wahrscheinlich ist ›eifersüchtig‹ nicht ganz der passende Ausdruck … Er muss jetzt lernen, seine Freunde zu teilen. Fiona und ich sind für ihn so was wie seine Familie, er hatte schließlich keine mehr, außer seiner alten Großtante, und die zählt nicht, weil sie ihn nicht wollte …' Larin seufzte und ließ seine Hand sinken. 'Maya. Er kommt schon damit klar. Für ihn ändert sich doch nicht wirklich etwas. Heute Vormittag ist es das erste Mal, dass wir beide endlich Zeit für uns allein haben. Genau genommen erst am Spätvormittag, da er mich ja mit dem Bogenschießen rumgekriegt hat … ohne euch, das war ihm wichtig.' Er stieß ein kurzes, amüsiertes Schnauben aus. 'Kann sein, er hatte berechtigte Angst, euch zu erschießen. Ich muss Waltraud und Wilbur noch das kaputte Fenster erklären, dabei hatte ich ihm eingeschärft, dass er die Sehne erst weit weg von den Häusern auf der Wiese spannen darf. Und weil er grad am Kaputtschießen war, hat er später, als wir den Bogen zurückbrachten, mit dem Zauberstab schnell nebenbei Waltrauds Kristallvase zusammen mit einem Bilderrahmen erledigt. Keine Ahnung, was er eigentlich treffen wollte. Eine Stunde ohne einen von uns kann er wohl aushalten, oder?' 'Schon …', murmelte Maya. 'Schau, seitdem wir zurück in Eldorin sind, sind wir ständig irgendwo eingeladen. Wir saßen sogar bei Frau Schusselbein im Wohnzimmer, die sich bisher nie meinen Namen merken konnte, und sie hat mich mit Unmengen dieser Kekse vollgestopft.' '… die du an ihre fette Katze verfüttert hast', unterbrach Maya grinsend. 'Und deinen Namen kann sie sich nach wie vor nicht merken, sie hat andauernd ›Mein Schätzelchen‹ gesagt.' Larin gab ein unverständliches Knurren von sich. 'Ich hab vom vielen Reden vermutlich Narben auf den Stimmbändern gekriegt. Es reicht.' 'Du hast ja recht … ähem …' Sie wurde rot. Sie hatte noch etwas wirklich Wichtiges über Max sagen wollen, aber es war in irgendeine Gehirnwindung geflutscht und wollte nicht mehr auftauchen. Larin schaffte es immer wieder, sie restlos zu verwirren. Es musste mit seinen Augen zu tun haben. 'Was?', fragte er sehr sanft und wappnete sich innerlich auf einen langen Vortrag. Maya kapitulierte normalerweise nicht so schnell, wenn sie von einer Sache überzeugt war. 'Äh … es fällt mir nicht mehr ein … ich wollte … hmm …' Larin grinste und seine dunklen Augen funkelten. 'Nicht so tragisch, erinnere dich einfach später dran.' 'Aber ich … hör auf, du bringst mich total raus!' 'Ich mach doch gar nichts!', protestierte er. 'Ja, nein, es genügt, wenn du mich so ansiehst!' Maya versuchte, streng zu klingen. 'Das ist unfair, ich wollte was Wichtiges sagen, und jetzt ist es weg.' Larin lachte. 'Du hättest mich heut früh sehen sollen. Ich hab die ganze Zeit an dich denken müssen, da hab ich nicht wahrgenommen, wo ich hinlaufe, bin gegen den Türrahmen geknallt und hab mich auch noch bei ihm entschuldigt.' Maya kicherte und gab auf, sich erinnern zu wollen. Sie beschloss, das Problem Max auf später zu verschieben, sobald ihr Herz nicht mehr so raste, und ihre Gedanken nicht durcheinander wirbelten wie Wäschestücke in der Waschmaschine. In diesem Zustand war es vernünftig, Larins Küsse zu erwidern. 'Hhrrhm.' Dieser Laut nah an Mayas Ohr ließ sie kurz darauf zusammenfahren. Sie drehte den Kopf in Richtung Störquelle und blickte irritiert in ein äußerst hässliches, runzliges Gesicht direkt neben dem ihren. Herr Bombus, der puppengroße Flugwicht im Haushalt ihrer Gastgeber starrte abwechselnd sie und Larin aus seinen schwarzen Äuglein an. 'Verzeihung', schnarrte er und verharrte in der Luft. Seine durchscheinenden Flügelchen verursachten ein brummendes Geräusch. 'Ich wollte den Herrschaften ausrichten, dass das Essen bereitet ist.' Maya musste über Larins Gesicht lachen, der einen Moment lang so genervt aussah, als wollte er gleich ein Kissen nach dem Helfelf werfen. 'Danke, das ist sehr nett', versicherte Larin so freundlich wie möglich, weil er fürchtete, Herrn Bombus, der recht empfindlich war, durch seinen verärgerten Gesichtsausdruck gekränkt zu haben. Der Helfelf vollführte eine steife Verbeugung in der Luft, die Maya wie immer ein wenig zum Lachen reizte, da er dabei an eine nach Futter tauchende Ente erinnerte. Obwohl er stets eine würdevolle Miene aufsetzte, wirkte er in seinem geringelten Anzug eher komisch. Auf dem Weg nach draußen flog er beinahe eine müde Glimmerfee um, die dabei war, sich ein geeignetes Plätzchen für den Mittagsschlaf zu suchen. Hektisch ergriff das kleine Wesen die Flucht und stürzte sich hinter eine Ranke der üppig blühenden Schlingpflanze, die einen Teil der Wand völlig überwuchert hatte und die Luft mit ihrem berauschenden Duft erfüllte. Herr Bombus war aufgrund seines Alters und des stark nachlassenden Sehvermögens ein nicht zu unterschätzendes Risiko für die winzigen Feen; manche von ihnen hatten blaue Flecken von einem Zusammenprall mit dem Helfelf davongetragen. 'Ist es wirklich schon Mittag?', fragte Maya erstaunt. 'Leider', antwortete Larin. 'Immerhin reiten wir nach dem Essen aus, das hab ich echt vermisst.' Er grinste. 'Max ist auf die Idee gekommen, den Bogen zum Reiten mitzuschleppen. Er will unbedingt vom galoppierenden Pferd aus schießen lernen. Wir müssen aufpassen, dass er das Ding daheim lässt, er würde vermutlich glatt Samantha erschießen.' Auf dem Weg zur Koppel erkannte Maya bereits von Weitem, dass in der großen Herde der eleganten Elfenpferde drei riesige, grobknochige schwarze Rösser grasten, die so gar nicht ins Bild passen wollten. Es versetzte ihr einen Stich, denn eines davon war Bärbel, das Pferd von Zacharias. Der ehemalige Schwarze Reiter war ihnen ein so zuverlässiger Freund geworden, dass besonders Max nur schwer über seinen Tod hinweggekommen war. An Bärbels Seite befand sich eine hübsche goldbraune Stute mit heller Mähne, die gleichermaßen nicht aus Eldorin stammte. Shanouk hatte sie geritten. Sie hatten sich darauf geeinigt, keinem gegenüber zu erwähnen, was er ihnen angetan hatte. Niemand brauchte zu wissen, dass er Vampirblut in sich trug und sich deshalb im Nebelwald unter dem Einfluss der dortigen Vampire in genau eines dieser Monster verwandelt hatte. Keiner hatte ihm dieses Erbe ansehen können; er wirkte eher wie ein Elf, auch wenn die goldblonden Haare ungewöhnlich waren. Lediglich einige Elfen und der Zwerg Gormack wussten darüber Bescheid, außerdem Larins Pflegeeltern. Die beiden Tanten Shanouks, die zusammen einen kleinen Laden in der Menschensiedlung betrieben, mussten natürlich ebenfalls informiert werden. Maya war froh, nicht dabei gewesen zu sein, als man ihnen die Botschaft überbracht hatte. Frau Hortensia Hage-Beauté, die zudem als Biologielehrerin an der Schule arbeitete, war zusammengebrochen. Sie hatte sich für ein paar Tage beurlauben lassen, und die Pflanzen in ihrem Gewächshaus hatten schwarze Bänder umgebunden bekommen. Wilbur hatte berichtet, dass die sensiblen Tränenwurze allesamt ein wenig schlaff anmuteten und ihre Blattränder sich kummervoll einrollten. Sie hatten Shanouk damals schwer verletzt zurücklassen müssen, und niemand wusste, was aus ihm geworden war. Sie hatten die Pferdeweide noch nicht erreicht, als aufgeregtes Wiehern erklang. Maya lachte glücklich. 'Hyadee! Du hast mich wohl vermisst?' Mayas zierliche Rappstute drängte sich ans Gatter und stampfte ungeduldig mit den Hufen. Larins Grauschimmelhengst Antares und Stelláris’ schneeweißer Orion galoppierten ebenfalls herbei und genossen die Streicheleinheiten. Die beiden wuchtigen schwarzen Stuten, die Max und Fiona geritten hatten, waren zurückhaltender, kamen aber mit Bärbel interessiert näher. Max’ Pferdedame begann, ihren Besitzer auf Leckereien zu untersuchen. 'He, du bist dreist!' Er bemühte sich, Samantha abzuwehren, die ihre große Nase in seine Hosentasche zu schieben versuchte, wo ihrer Erfahrung nach Menschen köstliche Dinge aufbewahrten. 'Du bist verfressen wie immer, und du zerreißt mir meine Sachen!', schimpfte er mit dem massigen Pferd. 'Ja', kicherte Fiona, 'deshalb passt sie auch so gut zu dir.' 'Wahnsinnig komisch', brummte Max. Wenig später saßen sie im Sattel und ließen die Pferde durch die mit Mohn, Goldweiderich und zarten Glockenblumen bunt getupfte Wiesenlandschaft traben. Die Sonne schien kräftig vom klarblauen Himmel und brachte die Grashalme zum Glänzen. Eldorin bestand nicht nur aus smaragdgrünen duftenden Wäldern, wo weiche Moospolster den Tritt dämpften; ein Teil davon war wogendes Grasland. Maya ritt an Larins Seite. 'Es ist schade, dass Luna schon wieder wegmusste. Ich hoffe so sehr, dass sie Leon findet.' 'Ich erst!' Larin grinste. 'Obwohl – wenn ich Leons Job gekriegt hätte, wärst du Königin geworden. Da hättest du alle so richtig rumkommandieren können.' Maya gluckste. 'Klar. Solange man den König auch rumscheuchen darf? Am meisten hätte ich mich allerdings auf die tollen Kleider gefreut.' 'Ich weiß nicht, warum du die Dinger nicht magst. Dabei schaust du so schön drin aus. Ich kann mich an das rote erinnern, als du deinen Zauberstab bekommen hast. Ich hab davon geträumt.' 'Vermutlich ein Albtraum', bemerkte Maya leichthin. Aber ihr Herz tat einen Satz. 'Du würdest sie übrigens nicht so schön finden, wenn du eines tragen müsstest. Ständig hat man Angst, sich drin zu verheddern und auf die Nase zu fallen. Du kannst es gerne ausprobieren, ich leih dir eines.' 'Dann wäre meine Würde als König völlig dahin. Noch ein Grund, warum Luna Leon unbedingt aufspüren muss.' 'Das klingt extrem einleuchtend! – Sag mal, wohin reiten wir eigentlich?' Maya ließ ihren Blick über die sonnendurchflutete Landschaft schweifen. 'Nur so in der Gegend rum, oder haben wir ein Ziel? Irgendwas kommt mir hier bekannt vor.' 'Wir haben eindeutig ein Ziel. Stelláris und ich dachten, es würde euch gefallen.' 'Wir sind bereits einmal in der Nähe gewesen.' Stelláris, der das ausgezeichnete Gehör der Elfen besaß, lenkte sein Pferd näher heran. 'Ah, die Nixen!' Maya war sofort klar, was er meinte. 'Ja.' Der Elf nickte. 'Wir reiten auf das Waldstück zu, das ihr dort am Horizont seht.' 'Gut!', rief Maya, 'aber ich will mal wieder richtig galoppieren! Fiona, ist das für dich in Ordnung?' 'Ich kann Lavinia ein wenig zurückhalten, wenn es mir zu schnell wird', schlug Fiona zögernd vor. 'Macht nur.' Maya setzte ihre Stute in Galopp. Hyadee ließ sich nicht zweimal bitten. Kaum hatte sie erfasst, was ihre Reiterin von ihr wollte, schnellte sie vorwärts. Neben sich hörte Maya Larin einen Jubelruf ausstoßen. Sie wusste genau, wie er sich fühlte. Es gab nichts Besseres, als auf Eldorins schnellen Pferden mit dem Wind zu fliegen. Antares jagte rechts von ihr dahin, links donnerten die Hufe von Orion. Sie beugte sich nach vorne über den Pferdehals. Der Wind peitschte ihr um die Ohren und der Boden unter ihr verschwamm. Wie war Hyadee schnell! 'Stopp!', rief Larin und hob die Hand. 'Gleich hinter der verkrüppelten Kiefer führt ein Pfad in den Wald hinein! Lassen wir die anderen zu uns aufschließen.' 'Puh!' Maya brachte ihr Pferd zum Stehen und japste nach Luft. 'Das war toll!' Sie drehte sich suchend nach Max und Fiona um. 'Sie brauchen noch ein bisschen', stellte Larin fest. 'Die zwei Schwarzen sind nett, aber schnell sind sie nicht.' Sobald die beiden aufgeholt hatten, tauchten sie gemeinsam in das sanfte Grün des Waldes ein. 'Endlich wird es kühler.' Max wischte sich die verklebten blonden Haare aus der Stirn. 'Erst sticht die Sonne, dann rennen wir wie die Verrückten. Sogar mein Pferd schwitzt … schaut!' Er strich Samantha über den kräftigen Hals und hatte weißen Schaum an den Händen. 'Ich glaube, für Samantha war es anstrengender als für dich', zwinkerte ihm Maya zu. 'Aber die Sonne dörrt mich aus wie eine Backpflaume! Ich glaube, ich lass mir ’ne Glatze wachsen. Bloß – was mache ich mit Samantha?' Ein Lächeln zuckte um Larins Mundwinkel. 'Im Wald wird es besser. Wenn du willst, kannst du ein sehr kühles Bad nehmen. Ich denke allerdings nicht, dass du Samantha überreden kannst.' 'Schwimmen?' Fiona sah verunsichert zu Maya hinüber. 'Ups', entschlüpfte es Maya, 'die Idee ist gut, nur leider haben wir keine Badesachen dabei. Letztes Mal sind wir mit der Kleidung rein.' 'Ich hatte diesmal auch gar nicht an Baden gedacht – aber Max kann gerne ins Wasser, wenn er wirklich will. Ich rate davon ab, es ist schweinekalt. Die Stelle, die wir euch zeigen möchten, ist bequem mit dem Boot zu erreichen.' 'Besitzen wir denn inzwischen überhaupt Badesachen?' Fiona legte nachdenklich den Kopf schief. 'Ich erinnere mich nicht, dass unter Lunas Geschenken welche waren.' 'Vermutlich nicht', räumte Larin ein. 'Elfen haben andere Gewohnheiten als Menschen.' 'Soll das heißen, Elfen baden nackt!', rief Max und bekam große Augen. Larin musste über Max’ Entsetzen lachen. 'Ja. Für mich ist das ganz normal, ich geh fast immer mit Stelláris zusammen schwimmen.' 'Und falls man tatsächlich mal auf andere trifft, ist man so höflich, einfach wegzusehen', ergänzte der Elf. 'Warum sollte man etwas anziehen, wenn man es nass macht?' 'Äh …', sagte Maya, 'grundsätzlich kein schlechtes Argument.' Ihr Blick streifte Larin. Als sie bemerkte, dass er sie ansah, fühlte sie sich auf sonderbare Weise ertappt und begann hastig, ihre Füße zu studieren. 'Vielleicht', meinte Fiona zögernd, 'kann uns Waltraud da weiterhelfen. Ich bräuchte eigentlich bloß einen passenden Stoff und eventuell ein Schnittmuster. Ich hab schon öfter was genäht, ich kriege es bestimmt hin. Sie selbst besitzt doch einen Badeanzug?' Larin grinste. 'Ja, allerdings steht sie nicht so aufs Schwimmen. Waltraud sagt, sie mag Wasser nur in der Badewanne und in der Blumenvase. Was mich nicht wundert, denn mit dem Ding, das sie Badeanzug nennt, würde ich absaufen. Wie sie sich damit über Wasser halten kann, ist mir ein Rätsel. Das Teil reicht ihr bis unterhalb der Knie und saugt sich in null Komma nichts voll. Ich würde mich da lieber an Luna wenden. Wenn du dir eine Anleitung von Waltraud holst, habt ihr hinterher womöglich einen geringelten Ganzkörperanzug und seht aus wie Herr Bombus.' Sie ritten einen schmalen, mit weiß blühendem Sternmoos überwucherten Pfad entlang, der sich durch saftiggrüne Ahorne und anmutige Birken schlängelte. Die Pferde setzten die Hufe vorsichtig, denn es lagen immer mehr Steinbrocken im Weg. Zwischen den Bäumen erkannte man einige haushoch aufgetürmte Felstrümmer, zu deren Füßen eine blaue Fläche glitzerte. Das Gestein war fast vollständig mit einem dicken grünen Polster überzogen. In den Ritzen wucherten Farne und rosa Orchideen. Stelláris hielt seinen Orion an. 'Hier steigen wir ab.' Er schwang sich als Erster vom Pferd und begann, seinen Schimmel abzusatteln. Als Maya Hyadee den Sattel abnahm, fing die Rappstute sofort an, ihren Kopf an ihr zu scheuern, und hätte sie dabei beinahe umgestoßen. 'Lass das, ich bin doch kein Baum!' 'Du musst sie noch ein bisschen erziehen', stellte Larin fest und gab Hyadee einen gut gemeinten Klaps. Die schwarze Stute guckte aufmerksam mit gespitzten Ohren zu Larin. Dann drehte sie ihren Kopf zu Maya und begann, mit ihrem samtweichen Maul zärtlich an ihr zu knabbern. Maya gab Hyadee einen Kuss auf die Nase und kraulte ihr den Hals. 'Kannst du dich losreißen?', fragte Larin nach einer Weile und sah fast ein wenig eifersüchtig aus. 'Klar, ich komm schon.' Stelláris, Fiona und Max waren bereits vorausgegangen. Larin trat mit Maya zwischen einer Gruppe Birken hindurch – und ihr verschlug es den Atem. Vor ihr lag ein klarer azurblauer See, nicht viel größer als vier Gärten aus der Siedlung. Allerdings schien er sich weiter auszudehnen, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. In der senkrecht aufragenden Felswand, die das Gewässer auf einer Seite begrenzte, klaffte eine torähnliche Öffnung, so groß, dass eine Kutsche bequem hätte durchfahren können, sofern die Wasseroberfläche sie zu tragen vermocht hätte. Der steinerne Durchlass wurde von grünen Lianen teilweise verdeckt. Das Sonnenlicht tanzte durch die Blätter der Bäume und ließ das Wasser wie poliertes Silber blitzen. Blaugrüne Libellen schossen darüber hinweg, funkelnd wie Edelsteine. Weiße Seerosen hatten Teile des Sees überzogen. Sie verbreiteten einen besonderen, süßen Duft, den Maya schon lange vorher wahrgenommen hatte und nicht hatte einordnen können. 'Das ist wunderschön!' Unwillkürlich hatte sie die Stimme gesenkt. Es erschien ihr unpassend, an diesem märchenhaften Ort laut zu sprechen. Max sah das anders. 'Hammer, oder?', schrie er ihr zu, als sei sie stark schwerhörig. 'Nicht das Blumenzeug … Stelláris sagt, dahinten ist ’ne versteckte Höhle, siehst du? Und ihr könnt alle reinrudern mit dem da!' Er deutete auf ein hölzernes Boot, das am Ufer festgetäut sanft auf dem Wasser schaukelte. 'Ja, der Durchgang führt in die Azur-Grotte. Max, bist du wirklich sicher, dass du schwimmen willst?', erkundigte sich Larin zweifelnd. 'Hier geht es noch, aber in der Höhle ist das Wasser eisig.' Max schlüpfte mit überlegener Miene aus seinen Schuhen und zog sich das Oberteil aus. 'Ich hol Samantha, es wird ihr gefallen, ein bisschen zu plantschen.' Er lief zu seinem Pferd, das mit den anderen entspannt den Saum des Sees nach essbaren Pflanzen absuchte, und ergriff die Zügel. 'Hopp, Dicke, wir baden.' Samantha warf ruckartig den Kopf nach hinten – ihr Blick schien empört. 'Vielleicht hast du sie beleidigt', mutmaßte Fiona. 'Unsinn!', grummelte Max und zog heftiger am Zügel. 'Du stehst falsch', machte Larin ihn aufmerksam. 'Wenn sie unbedingt Seepferd spielen soll, darfst du dich nicht vor sie stellen und zerren. Du gibst ihr durch deine Körpersprache zu verstehen, dass sie zurückweichen soll, und gleichzeitig ziehst du. Das verwirrt sie. Stell dich neben sie und geh mit ihr in die gleiche Richtung.' 'So …?', wollte Max wissen. Zu mehr kam er nicht. Samantha hatte durchaus gehorsam sein wollen, aber nicht so recht verstanden, was von ihr verlangt wurde. Endlich stand ihr Max nicht im Weg, und sie sollte doch vorwärts laufen? Obwohl die spiegelnde Fläche sie ängstigte, machte sie eifrig einen Satz nach vorn. Sie erschrak so dermaßen vor dem aufspritzenden Nass, dass sie einen entsetzten Hopser zur Seite vollführte und sich mit einem wilden Bocksprung ans Ufer rettete. Max hatte die Zügel nicht rechtzeitig losgelassen und wurde mitgerissen. Mit dem Gesicht voraus und einem lauten Aufplatschen landete er im Wasser. Eine ordentliche Portion Schlamm ausspuckend, tauchte er nur wenige Sekunden später wieder auf. 'Samantha, du Wildschwein!' 'Sie kann nichts dafür!', japste Maya, die sich vor Lachen kringelte. 'Max, das war echt gelungen!' Samantha schielte, unschuldig Wasserminzeblätter rupfend, zu Max hinüber. 'Böses Pferd!', schimpfte Max, musste aber letztlich in das Gelächter der anderen mit einstimmen. Stelláris und Larin zogen die Barke ein Stück aus dem See, dass die Mädchen bequem einsteigen konnten. Nur Max bestand darauf, in die Höhle zu schwimmen. Das war eine gute Möglichkeit, den Schlamm loszuwerden. Larin löste das Befestigungstau; Stelláris nahm die Ruder und stieß das Boot vom Ufer ab. Die Barke glitt fast lautlos durchs Wasser und streifte die grüne Wand aus Lianen vor dem Eingang zur Höhle. Maya streckte die Hände aus, um die Ranken zur Seite zu schieben, da waren sie auch schon hindurch. 'Es ist ja alles ganz blau!', rief sie erstaunt. 'Das Wasser, die Wände, sogar wir!' Die Felsdecke wies Spalten auf, durch die ins Innere der Grotte Sonnenstrahlen drangen. Es war beinahe taghell, und alles war in dieses flirrende, azurblaue Licht getaucht. 'Manchmal kommen die Nixen hierher', erläuterte Stelláris. 'Es gibt eine unterirdische Verbindung zum Fluss Sanguin, der außerhalb Eldorins liegt. Leider scheint sich heute keine einzige blicken zu lassen.' 'Schade', bedauerte Fiona und strahlte Stelláris an, 'trotzdem ist es bezaubernd hier.' 'Es ist e-echt schweinekalt!' Max hatte zähneklappernd das Boot erreicht. 'Zieht ihr mich rein? S-sonst könnt ihr mich bald als Eisklumpen rausmeißeln.' 'Das können wir keinesfalls verantworten', grinste Larin. 'Los, hoch mit dir.' Sie zerrten den schlotternden Max ins Boot. 'Uäh, ich hab Algen abgekriegt!' Max zupfte grüne Fäden fort, die sich zwischen den Fingern seiner rechten Hand verfangen hatten. 'Ich hab mich vorhin richtig drin verheddert. Eklig!' 'Das sind keine Algen …' Stelláris griff nach einem der grünen Fadenstränge und hielt ihn ins Licht. '… das sind Haare. Die Haare einer Nixe. Und hier an der Hose hast du Blut!' 'Was?' Max besah sich erschrocken seine Hose, die bläuliche Verfärbungen aufwies. 'Nixen haben blaues Blut', erklärte Larin hastig. 'Wie bist du hergeschwommen?' 'Ich hab abgekürzt', erzählte Max bestürzt. 'Ihr wart mir ein ganzes Stück voraus und seid im Kreis durch die Höhle gekurvt, deshalb bin ich da drüben nach dem Eingang gleich nach links. Ich wollte euch so schnell wie möglich einholen, weil es grässlich eisig war.' 'Ich sehe nach …' Stelláris zog sein Oberteil aus, streifte sich die Schuhe ab und tauchte mit einem Kopfsprung ins Wasser. Er war schemenhaft als blauer Schatten zu erahnen, während er den unterirdischen Teil der Grotte links der Höhlenöffnung absuchte. Kurz darauf erschien er an der Oberfläche. Im Arm hielt er ein bewusstloses Mädchen mit langen grünen Haaren. Es sah aus, als ob es schliefe. 'Ich bring sie an Land!', rief er ihnen zu. Er hatte die Nixe vorsichtig mit einem Arm umschlungen und schwamm mit ihr aus der Azur-Grotte Richtung Ufer. Blaue Schlieren breiteten sich hinter ihnen auf dem Wasser aus. Larin übernahm die Ruder und paddelte mit kräftigen Schlägen hinterher. 'Das schaut nicht gut aus, ich glaube, sie verliert ziemlich viel Blut', murmelte er und ließ die Barke aufs Ufer auffahren. Mit einem Satz sprang er heraus und schlang rasch das Halteseil um den Pfosten. Dann eilten sie zu der Stelle, an der Stelláris mit dem Mädchen aus dem See gestiegen war, und umringten die beiden. Der Elf ließ die ohnmächtige Nixe behutsam ins Moos gleiten. Maya beugte sich über sie. 'Die Arme. Sie ist schwer verletzt, nicht wahr?', flüsterte sie. 'Ja.' Stelláris untersuchte mehrere klaffende Wunden, die sich vom Oberkörper bis zur Hüfte zogen und aus denen fortwährend blaues Blut quoll. Er presste Moos in die Wunden, um die Blutung zu stillen. Eine kümmerliche Versorgung für so schwerwiegende Verletzungen! Mitunter war das Fleisch richtiggehend in Fetzen gerissen. Maya schauderte. Mit zitternden Fingern strich sie dem Mädchen mitleidig das wirre, nasse Haar aus dem Gesicht. 'Können wir nichts weiter tun?' 'Sie hat bereits eine Menge Blut verloren. Und ich weiß nicht, wie ich es stoppen kann.' Das Moos in der Wunde hatte sich sofort vollgesogen; dünne blaue Rinnsale liefen erneut über die bleiche Haut des zarten Geschöpfes. Sogar die grünblauen Schuppen, die sich vom Fischschwanz bis über die Taille zogen, wirkten fahl. 'Sie atmet sehr flach', stellte Maya leise fest. Eine Träne rollte ihr über die Wange und fiel auf das ebenmäßige Gesicht der Nixe. 'Kann man die Risse nicht nähen?', erkundigte sich Fiona mit wackliger Stimme. Sie schluckte. 'Wenn es sein muss, mach ich das, ich hab das bei Maya auch mal hingekriegt. Habt ihr irgendwas dabei?' Bedauernd schüttelte Stelláris den Kopf. 'Das würde in dem Fall vermutlich nichts nützen. Die Wunden sind teilweise äußerst tief, sie muss innere Verletzungen haben.' 'Könnten wir sie nicht nach Eldorin bringen?', fragte Maya unsicher. 'Oder würde sie den Transport nicht überstehen?' 'Zumindest spürt sie im Moment nichts, es würde ihr also keine zusätzlichen Schmerzen verursachen', erwiderte Larin. 'Wir sollten es versuchen.' 'Wir würden das arme Mädchen voraussichtlich sinnlos stundenlang durch die Hitze des Graslandes zerren.' Stelláris war nicht gerade glücklich über diesen Vorschlag. 'Falls sie doch aufwacht, wird sie unglaubliche Qualen leiden, und zurück können wir dann nicht mehr.' Maya fühlte eine schreckliche Hilflosigkeit. 'Wir nähen die Wunden zu', beschloss Larin. 'Sonst verblutet sie so oder so.' Stelláris seufzte. 'Wenn wir die inneren Gewebeschichten nicht nähen, verliert sie trotzdem weiter Blut, nur dass es nicht mehr nach außen abfließen kann, was noch problematischer ist. Also gut, wir versuchen es. Ich habe immer etwas in den Satteltaschen dabei, allerdings nicht unbedingt für Verletzungen wie diese.' Er stand auf und rannte zur Satteltasche, die er zusammen mit dem Sattel auf einem Stein abgelegt hatte. 'So … Fiona, ich weiß, dass du mit der Nadel geübter bist als ich, aber ich glaube, das hier sollte ich tun.' 'Danke', sagte Fiona nur. Ihr war allein von dem Gedanken übel geworden, die entsetzlichen Wunden nähen zu müssen. Stelláris holte eine Dose aus einem Beutel und schüttete sich einen Teil des grünlichen Inhalts auf die Hand. Sorgfältig rieb er sich mit dem Mittel, das Maya an Schimmelpilze erinnerte, die Hände ein. Dann begann er. 'Jemand muss sich damit ebenfalls die Hände säubern und anschließend die Wunde auseinanderziehen, sonst kann ich innen nicht richtig nähen', ließ er sie wissen. Max sprang auf und verschwand hinter einem Baum. Man hörte würgende Geräusche. Fiona griff wortlos nach der Dose und raffte all ihren Mut zusammen. Sie rieb sich die seltsame Substanz auf ihre Hände, bevor sie das zerfetzte Fleisch berührte. 'Ich muss dabei nicht die ganze Zeit hinsehen, oder?', flüsterte sie. 'Nein. Das machst du sehr gut so. Wenn du die Wundränder anders als jetzt halten sollst, sag ich es dir. Ich bin wirklich stolz auf dich.' Stelláris arbeitete außerordentlich konzentriert. Maya warf ab und zu einen scheuen Blick auf das, was er tat, und wandte dann wieder die Augen ab. Sie bewunderte Fiona für ihren Mut. Obwohl diese manchmal recht ängstlich war, konnte sie unglaublich tapfer sein, wenn es darauf ankam. Maya hatte weiches Moos als Polster unter den Kopf der Nixe geschoben und streichelte zart ihre Wangen. Mehr konnte sie nicht für sie tun. Larin saß regungslos daneben. Er sah leicht grün verfärbt aus. Einmal bat Stelláris ihn, der Nixe ein paar Tropfen einer Medizin zwischen die Lippen zu träufeln, was er stumm erledigte. Von Max war nichts weiter zu hören und zu sehen. Immerhin vernahm man keine Würgelaute mehr. 'Fertig!', erklärte Stelláris nach einer Weile, die Maya wie eine Ewigkeit vorkam. Erleichtert atmete er tief durch, säuberte seine blutigen Hände und die Nadel und verstaute alles wieder an seinem Platz. Allerdings schaute er grimmig drein. 'Was hast du?' Fiona merkte, dass etwas an ihm nagte. 'Luna hätte besser helfen können!', stieß er frustriert hervor. 'Anais ebenfalls. Luna ist am besten von allen im Heilen. Sie streicht mit der Hand über eine Wunde, sie berührt sie nicht einmal, und schon setzt der Heilungsprozess ein.' 'Das hier hätte selbst Luna nicht mit Elfenmagie wieder in Ordnung bringen können', beschwichtigte Larin. 'Sie hat eine ungewöhnliche Begabung, aber auch sie kann solche üblen Verletzungen nicht einfach heilen, genauso wenig wie sie einen Sterbenden ins Leben zurückholen kann.' 'Sie hat es mir beibringen wollen', murmelte Stelláris. 'Ich fand, dass ich bereits reichlich viel gelernt habe und bin lieber Bogenschießen oder Reiten gegangen. Oder hab ein bisschen mit Feuer rumgezaubert oder so etwas in der Art. Das ist ja auch viel beeindruckender.' 'Das, was Luna beherrscht, ist bestimmt schwer zu erlernen! Hast du nicht einmal erwähnt, es dauert Jahre, bis man es kann?' Fiona ließ ihre Hand sanft über seinen Rücken gleiten. 'Sei nicht so streng mit dir. Du hast das toll gemacht. Du kannst immer noch anfangen, von ihr das Heilen gezeigt zu bekommen.' 'Schaut!', sagte Maya leise. 'Ihre Augen!' Die Lider der Nixe flatterten. Ihr Atem ging stoßweise, und sie bewegte stöhnend den Kopf hin und her. 'Du bist in Sicherheit!', flüsterte Maya ihr zu und strich ihr beruhigend übers Gesicht. Die Nixe schlug die Augen auf. Sie waren vor Angst und Schmerz weit aufgerissen, aber wunderschön, saphirblau mit kleinen grünen Sprenkeln; es sah aus, als würden winzige Blättchen in einem tiefen geheimnisvollen Teich treiben. Sie schwammen von Tränen. 'Du bist in Sicherheit', wiederholte Maya und hoffte, dass ihre Worte zu dem verängstigten Mädchen durchdrangen. Die Augen flossen über, Tränen kullerten über die totenbleichen Wangen der Nixe. Erstaunt erkannte Maya, dass die Tränen schimmernde weiße Perlen waren. Die Augen der Nixe hefteten sich auf Mayas Gesicht. Sie öffnete die Lippen, doch kein Laut kam heraus. Maya fühlte, wie ihre eigenen Tränen flossen. Die Nixe verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln, dann hob und senkte sich ihre Brust mit einem tiefen Aufseufzen zum letzten Mal. Sie glitt hinüber in eine andere Welt, wo der Schmerz sie nicht mehr erreichen konnte. Sie war tot. Die nächste Stunde verbrachte Maya wie betäubt. Obwohl sie diese kleine Nixe nicht wirklich gekannt hatte, war sie zutiefst traurig. Sie hatte so jung ausgesehen. Maya grübelte, ob sie ihr hätten helfen können, wenn sie sie nur ein bisschen früher gefunden hätten. Was mochte passiert sein? Woher stammten diese fürchterlichen Wunden? Wer tat einem so zauberhaften Mädchen derart Grauenvolles an und warum? Das waren keine menschlichen Waffen gewesen, das war irgendetwas anderes. Vielleicht ein Tier? Aber welches? Sie konnten nur mit Gewissheit sagen, dass der Angriff außerhalb der Grenzen Eldorins erfolgt sein musste. Wer auch immer diese scheußliche Tat begangen hatte, er hätte niemals vermocht, ins Reich der Waldelfen einzudringen. Das Opfer hatte sich wohl mit schwindenden Kräften durch den unterirdischen Wasserzulauf an diesen Ort geflüchtet. Sie hatten beschlossen, die Nixe in die Barke zu legen und in die Azur-Grotte zu bringen. Irgendwie hätte Maya es nicht richtig gefunden, ein so sehr mit dem Wasser verbundenes Wesen in der Erde zu begraben. Sie watete durch das kühle Wasser am Rand des Teiches und pflückte Seerosen, die sie um das Mädchen herum in das Boot legte. Einige ordnete sie auf seiner Brust an, um die Narben zu verdecken. 'So ist es gut.' Maya wischte sich die letzten Tränen weg. Dann küsste sie die weiße Stirn der Nixe. 'Quäl dich nicht so', sagte Larin und nahm Maya in die Arme. 'Wir haben alles versucht. Ich ziehe jetzt mit Stelláris das Boot in die blaue Grotte. Danach reiten wir heim.' Zu Hause in Eldorin hatte Maya keine Lust, sofort mit den anderen von der Koppel aus den Wiesenweg am Bach entlang zur Elfenstadt zurückzulaufen. Sie wären dicht an der Menschensiedlung vorbeigekommen, und Maya wollte momentan niemanden treffen, mit dem sie ein höfliches, belangloses Gespräch hätte führen müssen. Hier bei den Pferden war der einzige Mensch Ignatz, der Pferdehüter, der ihnen über den Weg laufen konnte, und der benutzte seine Stimme so selten, dass sie immer ein wenig eingerostet klang. Larin blieb bei ihr. Er gehörte zu den Menschen, mit denen man auch einmal schweigen konnte, wenn einem nicht nach Reden zumute war. Das war eine Gabe, die nicht jeder besaß. Die weitläufige Pferdeweide mit den Stallungen war teilweise vom Elfenwald umschlossen. Sie setzten sich auf den würzig duftenden Boden unter eine mächtige Kiefer und lehnten sich an den warmen rauen Stamm. Das gemeinsame Bogenschießen, auf das Maya sich so gefreut hatte, hatten sie auf ein anderes Mal verschoben. Keiner hatte heute mehr Interesse daran. Eine Zeitlang saßen sie regungslos im Halbschatten und beobachteten die Herde. Schließlich begann Larin, in seinen Taschen zu kramen. 'Schau, das hier hab ich behalten.' Er öffnete die Hand. In ihr schimmerten matt die Perlen, die die Nixe geweint hatte. Maya schluckte. 'Ich werde den anderen auch eine geben', sagte Larin leise. 'Sie … sind äußerst selten und sehr kostbar. Aber vor allem sind sie ein Andenken.' Maya starrte die Perlen an. Sie wusste nicht so recht, ob sie wirklich eine Erinnerung an die arme Nixe haben wollte. 'Nimm sie', forderte Larin sie auf. 'Es war ihr Geschenk an uns. Sie hätte keine Perlen geweint, wenn sie das nicht gewollt hätte. Man sagt diesen besonderen Tränen nach, dass, wer sie schluckt, unter Wasser atmen kann wie eine Nixe. Ich kenne niemanden, der es ausprobiert hätte, aber da Luna es erwähnt hat, muss es wohl stimmen.' Zögernd nahm Maya eine der makellosen Perlen und hielt sie mit zwei Fingern gegen die Sonne. Sie glänzte im Licht und fühlte sich kühl an und fest, obwohl sie doch ursprünglich eine Träne gewesen war. 'Es ist ein wunderschönes und ein schreckliches Geschenk.'

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
300 Seiten
ISBN:
9783981620146
Erschienen:
März 2016
Verlag:
Verlag Vier Raben
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