Buch

Ostrakon. Die Scherbenhüterin - Michaela Abresch

Ostrakon. Die Scherbenhüterin

von Michaela Abresch

Leseprobe aus Teil 2, Erez Ysrael, 60-68 n. Chr., Kapitel 2

Am Morgen darauf bat Jochanan Daya, ihn auf einem Spaziergang zu begleiten. Verunsichert erhob sie sich von ihrem Platz an der Getreidemühle. Um diese Zeit gehörte sie an den Mahlstein, wusste er das nicht? Erst als Tante Ester ihr aufmunternd zunickte, lief sie ihren Kopfschleier holen. Warum wollte er sie bei sich haben? Befangen und mit gesenktem Kopf schritt sie neben ihrem Onkel her, der den direkten Weg zum Hafen einschlug. "Gibt es einen Platz in der Stadt, den du besonders magst?", fragte er. Augenblicklich wies sie mit ausgestrecktem Arm hinunter zum See, der silbrig glänzend vor ihnen lag. Seevögel kreisten am wolkenlosen Himmel und stießen die vertrauten, kreischenden Laute aus. […] Die Leute, denen sie unterwegs begegneten, hielten sie auf, weil sie Jochanan begrüßten und Gespräche mit ihm anfingen, ihn Dinge fragten, deren Sinn Daya nicht verstand und sie wunderte sich über die gleichbleibende Freundlichkeit, mit der er auf ihr Drängen antwortete. Sie hörte, wie er die Leute zu einer Zusammenkunft ins Haus seiner Schwester einlud, noch am gleichen Abend, sobald die Sonne untergegangen sei. Daya wusste um die regelmäßig abgehaltenen Zusammenkünfte, denen auch Caleb und ihre Tanten bisweilen beiwohnten, und über die man im Haus nicht viel sprach. Nie hatte sich jemand die Mühe gemacht, ihr Genaueres über deren Zweck zu erzählen oder sie gar gebeten, einmal mitzukommen. […] Sie durchquerten das schattige Laubwäldchen, hinter dem sich jener Teilabschnitt des Ufers anschloss, den Daya am liebsten mochte. Die flache, nur wenige Schritte vom Ufer entfernte felsige Erhebung, die bisher ihr allein gehört hatte, bot genügend Platz für sie beide. Sie setzten sich, schwiegen, lauschten dem Wind, der über den See und mit einem sanften Raunen durch die Halme der Schilfrohre strich. Leise schwappte das Wasser ans steinige Ufer, überschwemmte die glatten Kiesel und brachte sie zum Glänzen. "Ein wunderschöner Ort." Dayas Herz hüpfte vor Freude, weil ihr Onkel ebenso empfand. "Ein Ort, an dem keine Worte nötig sind", fuhr er fort, "deshalb magst du ihn, nicht wahr?" Er suchte ihren Blick. Ein Nicken bestätigte seine Worte. "Und er mag dich ebenso." Sie lächelte. "Ein Ort, an dem für gewöhnlich nicht gesprochen wird." Er wandte sein Gesicht dem See zu. "Und doch kann es keinen besseren Platz geben, um von Menschen und Ereignissen zu sprechen, die es wert sind, sich ihrer zu erinnern." Daya verstand nicht, worauf er hinaus wollte. Er schwieg, und schien in Gedanken weit fort zu sein. "Ich will dir etwas über deine Mutter erzählen, Daya." Seine Worte ließen sie unmerklich zusammenfahren. "Nur wenn du magst", fügte er lächelnd hinzu, den Kopf zur Seite geneigt. Etwas Junggebliebenes haftete ihm an, trotz seines Alters und des struppigen, graubraunen Bartes. Sie mochte ihn, weil sie spürte, dass er es gut mit ihr meinte. Die Angst flog davon. "Vielleicht haben dir andere Menschen Dinge über sie erzählt, meine Schwester Merab möglicherweise. Oder auch Ester. Vielleicht auch die Frau, mit der du hierher kamst. Jeder von ihnen kannte deine Mutter auf eine andere Weise. Ich will dir davon erzählen, wie ich es tat." Wieder schwieg er einen Augenblick und es war, als sammle er seine Gedanken, um sie in der richtigen Reihenfolge zu ordnen oder um nichts Bedeutungsvolles zu vergessen. Als er zu erzählen begann, lag in seiner Stimme eine Festigkeit, die Daya die innere Wahrheit begreiflich machte, die aus seinem Herzen aufstieg und nun über seine Lippen kam.

Rezensionen zu diesem Buch

Eines der schönsten Bücher, die ich im Jahre 2013 gelesen habe

In "Ostrakon. Die Scherbenhüterin" erzählt Michaela Abresch von Daya, einer Halbjüdin, die 55-73 n Chr. in Erez Ysrael wohnte. Daya wuchs mit ihrer Mutter Yesha und ihrer Adah in einem kleinen Haus ohne Vater, jedoch glücklich auf. Ihre Mutter war eine Anhängerin von Jeschua, einem Propheten, und lehrte nach seinem Tag sein Wort an gottesgläubige Menschen. Sie konnte lesen und schreiben, was zu dieser Zeit nicht normal war, und was einige Männer als störend und unerlaubt sahen. Dies war auch...

Weiterlesen

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Historische Romane
Sprache:
deutsch
Umfang:
402 Seiten
ISBN:
9783862822317
Erschienen:
September 2013
Verlag:
Acabus Verlag
8
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 4 (2 Bewertungen)

Rezension schreiben

Diesen Artikel im Shop kaufen

Das Buch befindet sich in 5 Regalen.