Buch

Die Befreiung der Geschichte - Peggy H. Breitenstein

Die Befreiung der Geschichte

von Peggy H. Breitenstein

Dieses Buch versteht sich als Beitrag zu einer materialen Geschichtsphilosophie, die sich innerhalb der praktischen Philosophie und hier wiederum in besonderer Nähe zu einer kritischen Sozialphilosophie verorten lässt. Nun sind Veröffentlichungen zum Thema "Geschichtsphilosophie" jedoch von vornherein einer tiefgreifenden Skepsis ausgesetzt: Obwohl die Zahl der ihr gewidmeten Publikationen gerade in den beiden letzten Jahrzehnten zugenommen hat, ist diese Disziplin heute noch ebenso umstritten, wie sie es zur Zeit ihrer Etablierung innerhalb der Philosophie war. Das hat sowohl gute als auch weniger gute Gründe, zu denen eingangs knapp Stellung bezogen werden soll, bevor die Grenzen der gegenwärtigen materialen Geschichtsphilosophie (I.1), der Anspruch einer kritischen materialen Geschichtsphilosophie (I.2) sowie Ziel und Aufbau (I.3) der vorliegenden Abhandlung erläutert werden.

Derartige Stellungnahmen stehen Arbeiten, die sich mit dieser philosophischen Teildisziplin befassen, gewöhnlich voran, verbunden zumeist mit einer grundsätzlichen Klärung, was denn überhaupt "Geschichtsphilosophie" heißen soll. Mit dieser Frage aber beginnen bereits die Kontroversen, handelt es sich doch um einen zwar noch nicht sehr alten - Voltaire sprach 1765 erstmals von philosophie de l'histoire -, jedoch um so vieldeutigeren Begriff, der für recht verschiedene philosophische und nichtphilosophische Fragestellungen, für implizite wie explizite Annahmen oder Prämissen, für Deutungen und Argumentationsmuster steht und der zudem zuweilen wohlwollend, zuweilen disqualifizierend gebraucht wird. Entsprechend gibt es mittlerweile verschiedene Typologien, die diese Vieldeutigkeit systematisch zu ordnen versuchen (vgl. Marquard 1973a: 14; Lembeck 2000: 9; Baumgartner 1996: 158; Zwenger 2008: 14 ff.; Breitenstein 2011).

Allgemein anerkannt ist zunächst, dass der Terminus "Geschichtsphilosophie" einen "weiten" und einen "engen" Bedeutungsgehalt hat. Der weite Bedeutungsgehalt lässt sich anhand ihres Gegenstandes erläutern und zugleich differenzieren: Objekt der Geschichtsphilosophie, das heißt Gegenstand ihrer Reflexion, ist (die) Geschichte. Der Begriff "Geschichte" selbst aber hat, ob er im Singular oder Plural gebraucht wird, zwei Grundbedeutungen: Er bezeichnet einerseits das vergangene Geschehen selbst (res gestae), Ereignisse und Prozesse, andererseits die von diesem Geschehen zeugende Kunde (historia rerum gestarum), die wiederum auf die Erinnerung an dieses Geschehen (rerum gestarum memoria) verweist.

Dieser weiten Bedeutung von "Geschichte" entsprechend werden gewöhnlich auch innerhalb der Geschichtsphilosophie zwei Richtungen von Fragestellungen unterschieden: die nach dem vergangenen Geschehen selbst (materiale Fragen) und die nach dem Wissen von der Vergangenheit (formale Fragen). Materiale Geschichtsphilosophie thematisiert Geschichte als umfassenden historischen Prozess, bemüht sich um dessen Deutung, fragt nach Akteuren, Faktoren, Strukturen, Regelmäßigkeiten, Kontinuitäten und Verlaufsmodellen sowie durchaus auch nach Sinn und Bedeutung für den Menschen. Formale Geschichtsphilosophie fragt nach der Konstitution des Wissens von Geschichte, umfasst damit einerseits philosophische Erkenntnistheorie dieses Wissens, andererseits die Methodologie der historischen Wissenschaften, die als "Geschichts(wissenschafts)theorie" auch Teildisziplin der Geschichtswissenschaft selbst sein kann (vgl. Mandelbaum 1952: 317 ff.; Acham 1974: 19).

Die engere Bedeutung des Begriffs - und der bekannte Klageruf von den "Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie" bezieht sich auf diese - meint eine spezifische historische Ausprägung oder Formation: die sogenannte "klassische Geschichtsphilosophie". Sie hatte sich in der Zeit der Aufklärung, seit Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet, verlor jedoch bereits 100 Jahre später an Einfluss; als ihre exemplarischen Vertreter gelten so verschiedene Philosophen wie Turgot, Condorcet, Kant, Hegel, Comte und Marx (vgl. Angehrn 1991: 9; Gil 1999: 19 ff.; Rohbeck 2003: 309).

Innerhalb des weiten Begriffs kann die klassische der materialen Geschichtsphilosophie zugeordnet werden, unternahm sie es doch, den - häufig Vergangenheit und Zukunft umfassenden - "historischen Gesamtprozess" zu deuten und zu erklären. Dessen Verlauf wurde allerdings seit der Aufklärung nicht mehr auf göttliches Eingreifen zurückgeführt, sondern sollte aufgrund vernünftig einsehbarer Prinzipien erklärt werden. Die klassische Geschichtsphilosophie formierte sich - obgleich nicht immer konsequent - als philosophische Disziplin gegen die Geschichtstheologie von Augustinus bis Bossuet. Diese nicht zu leugnende genetische Abhängigkeit wurde ihr allerdings im Nachhinein zum Vorwurf gemacht. Vor allem Vertreter der "Säkularisierungsthese" monierten immer wieder, die Aufklärer hätten lediglich "die Vernunft" an die Stelle Gottes gesetzt und damit den Menschen oder auch die Menschheit zum Akteur und Lenker der Geschichte erklärt; systematisch bleibe die Geschichtsphilosophie der Geschichtstheologie verpflichtet, selbst wenn der "Glaube an den Fortschritt […] den an die Vorsehung ersetzt" (Löwith 1979 [1952]: 12). Ernsthafte, gar wissenschaftliche Ansprüche könne diese Disziplin daher nie vertreten, sondern sie sei nach wie vor nur als Eschatologie möglich (vgl. Theunissen 1969: 39 f.). Die Einwände richten sich jedoch nicht nur gegen metaphysische Überbleibsel, sondern auch gegen ideologische Implikationen: In der klassischen Geschichtsphilosophie werde die Allmacht Gottes auf den Menschen übertragen: Sie sei - so bringt dann Odo Marquard eine verbreitete Ansicht auf den Punkt - entstanden als "Theodizee durch Autonomie", der entsprechend die Forderung nach "Verschonung der Welt" entgegenzusetzen sei.

Geschichte als Fortschrittsgeschichte, der Mensch als ihr Macher, die Menschheit als autonomes Subjekt der Geschichte - diese Leitideen werden noch immer häufig als die "der" Geschichtsphilosophie angesehen (vgl. Freyer 1965; Marquard 1973a: 62; Nagl-Docekal 1996: 7). Auch epistemologische Vorbehalte halten sich hartnäckig und werden zuweilen auf sämtliche materiale geschichtsphilosophische Problemstellungen übertragen: Diese Art Geschichtsphilosophie sei nur als Geschichtsmetaphysik (im pejorativen Sinne) oder Spekulation möglich (vgl. Baumgartner 1996: 154 f.; Sweet 2004: 12). Sie gebe vor zu erkennen, was nicht erkennbar ist: die Geschichte als Totalität, ihren Sinn, den Fortschritt der Menschheit. Zudem sei sie - so wird auch ideologiekritisch immer wieder moniert - in ihrem totalitären Anspruch und aufgrund der Wahl ihrer Deutungsschemata selbst ein praktisch wirksamer Faktor des Geschehens oder habe sich seit ihrem Bestehen sogar ganz unverhüllt von verschiedenen Ideologien instrumentalisieren lassen (vgl. Kesting 1959; Lübbe 1993: 26 ff.).

Ein Teil dieser zumeist einseitigen Vorwürfe konnte inzwischen zurückgewiesen werden; dennoch steht die Disziplin der Geschichtsphilosophie, zumindest wenn sie sich nicht nur mit formalen Fragen auseinandersetzt, deren Zweckmäßigkeit seltsamerweise nahezu unhinterfragt ist (vgl. Tucker 2008; Little 2010), noch immer im langen Schatten ihrer Vergangenheit.

Bevor daher geklärt werden kann, was mit Geschichtsphilosophie als Gesellschaftskritik, das heißt mit einer kritischen materialen Geschichtsphilosophie gemeint ist und inwiefern sie sich in der praktischen Philosophie verorten lässt, erscheint es notwendig, ausführlicher auf den Stand der gegenwärtigen Diskussion um die materiale Geschichtsphilosophie einzugehen, verweist dieser doch zugleich auf die epistemischen Grenzen und methodologischen Leitlinien jeder ernsthaften philosophische Beschäftigung mit der Geschichte.

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Religion und Glaube
Sprache:
deutsch
Umfang:
325 Seiten
ISBN:
9783593412900
Erschienen:
Juli 2013
Verlag:
Campus Verlag GmbH
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