Rezension

1976 - Jugendliche, die es satt haben, "Republikflucht" und die Folgen

Gittersee -

Gittersee
von Charlotte Gneuss

Bewertet mit 4.5 Sternen

Weil Karins berufstätige Mutter ständig erschöpft ist, führt den Haushalt die Oma und die Sechzehnjährige ist für ihre zweijährige Schwester verantwortlich. Hauptsache der Abwasch wird erledigt und die „Kleine“ ist versorgt. In Gittersee, einem Stadtteil Dresdens mit Steinkohle- und Uranbergbau, scheint es nichts zu geben, für das Rebellion gegen das Dienstmädchendasein lohnen würde.

Als Karins Freund Paul mit ihr und „Rühle“ (junior) einen hochgeheimen Motorrad-Tripp in die Tschechei unternehmen will, sagt Karin u. a. wegen ihrer Haushaltspflichten ab. Der Plan geht gehörig schief; Paul verschwindet aus dem Zelt, und die drei Jugendlichen werden der Republikflucht verdächtigt. Rühle senior ist Karins Sportlehrer – mit Orden und Lametta geschmückt, haut er seinen Sohn raus. Bleibt Karin, die von zwei Uniformierten zum Verhör geholt wird – ohne Begleitung durch Erziehungsberechtigte. Sie hätte seine Lügen durchschauen und Paul seine Fluchtpläne anmerken müssen, wirft man ihr vor.

Der Ermittler Wickwalz realisiert, dass weder die völlig isolierte Sechzehnjährige noch ihre desinteressierten Eltern ihm etwas entgegensetzen werden. Er kommt und geht, wie es ihm passt, nimmt Karin wiederholt mit, baut sie auf zur Muster-Informantin. Sie hat viel zu erzählen, nicht nur über Paul; sie will Wickwalz gefallen. Ihre Beziehung erinnert fatal an Abhängigkeitsverhältnisse, in denen sexuelle Gewalt gegen Minderjährige ausgeübt wird.

Warum Karin dem Ermittler Wickwalz auf den Leim geht, ist aus heutiger Sicht vermutlich schwer zu verstehen. Sie wächst auf im „Tal der Ahnungslosen“, einer Region, in der kein Westfernsehen empfangen werden kann. (Karins Mutter ist 1945 geboren.) Eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat in der DDR - staatlich verordnet – nicht stattgefunden. So wurde offenbar die Erfahrung ausradiert, wie Kinder, auf Gehorsam gedrillt, von Fremden ausgefragt werden und andere Menschen damit ins Gefängnis bringen können.

Fazit
„Gittersee“ ist ein verdichtetes Stück DDR-Geschichte, das der inzwischen verbreiteten Ostalgie entschieden entgegentritt – und das mich mit seiner Rahmenhandlung überraschen konnte.