Rezension

70 Jahre alt, aber ungebrochen in seiner Aussagekraft

Der Schnee war schmutzig - Georges Simenon

Der Schnee war schmutzig
von Georges Simenon

Bewertet mit 5 Sternen

REZENSION – Wer nur einige seiner 75 kommerziell erfolgreichen Krimis um Kommissar Maigret gelesen hat, kennt nur die eine, die unterhaltsame Seite des belgischen Schriftsteller Georges Simenon (1903-1989). Wer das literarische Können des, gemessen an seinem Gesamtwerk, erfolgreichsten Autors des 20. Jahrhunderts wirklich erfahren will, sollte auch einige seiner anderen etwa 120 Romane und 150 Erzählungen lesen. Dies wird einem erst richtig bewusst bei der Lektüre seines bereits 1948 im amerikanischen Exil veröffentlichten Romans „Der Schnee war schmutzig“, der kürzlich, von Kristian Wachinger neu übersetzt, mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann neu herausgegeben wurde. Dieser so düstere, lange nachwirkende Roman hat in seiner zeitlosen Betrachtung des menschlichen Wesens und der leichten Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft auch 70 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung nichts an Kraft verloren.
Simenon, der seit 1930 in Paris gelebt hatte und erst 1945 in die USA emigriert war, schildert in seinem Roman die bedrückende Situation in einem zwar namenlosen, von fremden Truppen besetzten Land, das aber unschwer an die deutsche Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg erinnert. Die soziale Ordnung, die Würde des Menschen und das Mitgefühl mit den Nächsten scheinen ausgesetzt, im Einzelfall sogar verloren zu sein. In dieser Situation lernen wir den 18-jährigen Frank Friedmaier kennen, der vaterlos im Bordell seiner Mutter aufgewachsen ist. Der haltlose junge Mann würde dieses Milieu gern verlassen, sehnt sich im Innersten nach einer heilen Welt, landet aber immer tiefer in der kriminellen Szene, bis er schließlich sogar – eher grundlos und aus Langeweile – zum Mörder wird und als Todeskandidat in Isolationshaft sitzt. Erst dort spürt er beim Besuch der ihn liebenden Nachbarstochter Sissy Holst die Bedeutung von Zuneigung und Liebe.
Erst Sissys selbstlose, bedingungslose Liebe, obwohl Frank sie Wochen zuvor mitleidslos gleich einer Prostituierten an einen Freund verschachert hatte, ermöglicht es Frank Friedmaier endlich, ein moralisches Bewusstsein aus sich selbst heraus zu entwickeln. In Sissy als Braut und deren Vater als Ersatz des immer vermissten eigenen Vaters findet er die vermissten Zeichen familiärer Zusammengehörigkeit, Zeichen einer heilen Welt. „Er wird nur das gehabt haben. Das ist alles für ihn. Davor war nichts, und danach wird nichts mehr sein. Es ist seine Hochzeit! Es sind seine Flitterwochen, sein Leben, das er auf einen Schlag leben muss.“ Frank erkennt, dass auf diesen Moment nur noch sein Tod folgen kann. So schließt Simenons Roman folgerichtig mit Franks Hinrichtung durch ein Erschießungskommando.
Simenon zeigt in diesem Roman, wie in Besatzungszeiten durch fremde Mächte normale Gesellschaftsregeln außer Kraft gesetzt und die Menschen ihrer moralischen Prinzipien beraubt werden. „Der Schnee war schmutzig“ ist trotz zweier Morde und anderer Verbrechen kein Kriminalroman. Ähnlich, wie Simenon seinen Protagonisten nicht als Verbrecher zeigt, sondern „nur“ als ein für seine Mitmenschen uninteressantes Glied der Gesellschaft, geschehen auch seine Taten eher beiläufig, gedankenlos, und werden von den anderen gefühllos, fast als unvermeidbar hingenommen. Erst in der Isolationshaft – dies ist der psychologisch und in seiner Intensität beeindruckendste Teil dieses lesenswerten Romans – entwickelt sich Friedmaier durch Schaffung eines moralischen Selbstbewusstseins allmählich zum „Menschen“. Doch für ihn ist es jetzt zu spät.