Rezension

Armut prägt durch Generationen hindurch

Martha und die Ihren -

Martha und die Ihren
von Lukas Hartmann

Bewertet mit 4 Sternen

Mit "Martha und die Ihren" hat der Schweizer Autor Lukas Hartmann sowohl eine autofiktionale Familiengeschichte geschrieben als auch ein Zeit- und Gesellschaftsbild vom frühen 20. Jahrhundert bis in die 1960-er Jahre gezeichnet. Inspiriert durch die Geschichte seiner Großmutter Martha schildert er den Lebensweg einer Frau, die als Achtjährige das Auseinanderbrechen ihrer Familie und das fremdbestimmte Leben als Verdingkind erlebte und sich mit Härte und Ehrgeiz aus extremer Armut in bescheidenen Wohlstand durchkämpfte.

Der Tod des Vaters lässt Marthas Familie völlig mittellos zurück. Ein soziales Netz in unserem heutigen Sinne gibt es nicht. Da die Mutter außerstande ist, ihre sechs Kinder zu ernähren, verteilt die Gemeinde sie getrennt an Pflegefamilien, in denen sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Martha befindet sich in ihrer neuen "Familie" buchstäblich am Ende der sozialen Leiter, ist diejenige, die als Letzte etwas zu essen bekommt - und  dann meist nur spärliche Reste.

Das Mädchen ist intelligent und ehrgeizig, eigentlich erfüllt sie alle Voraussetzungen für die höhere Schule - aber für ein Verdingkind ist das ein unmöglicher Traum. Dass sie in der Strickfabrik der nahen Stadt Arbeit findet, ist für die 16-jährige schon ein Aufstieg - denn die Fabrik gilt als verhältnismäßig anständig im Umgang mit den Arbeiterinnen. 

Eine frühe Ehe ist zunächst vernunftbetont, später durchaus von Liebe geprägt, doch das Schicksal von Marthas Mutter scheint sich zu wiederholen: Als junge Frau ist Martha Witwe mit zwei kleinen Kindern. Mit eiserner Entschlossenheit kämpft sie sich durch - doch die Härte gegen sich selbst zeigt sie auch ihren beiden Söhnen. Vor allem der ältere wird früh in die Verantwortung genommen und verinnerlicht den Ehrgeiz, den Aufstieg unbedingt zu schaffen.

Vielleicht liegt es an den Entbehrungen und Härten - Gefühle und liebevoller Umgang haben in dieser Familie kaum Platz. Es werden Marthas Enkel sein, die, in bescheidenem Wohlstand aufgewachsen, von einem Leben träumen, dass nicht nur aus Arbeit und Geldverdienen besteht. 

"Martha und die Ihren" überzeugt vor allem im ersten Teil über Marthas Jugend und die frühen Jahre ihrer Ehe. Je mehr Familienmitglieder die Handlung prägen, desto blasser werden die Figuren, desto blasser und allgemeiner wird auch Martha. Die Familiendynamik bleibt relativ allgemein, vielleicht auch wegen des autobiographischen Hintergrundes. Deshalb hat das Buch für mich in der zweiten Hälfte nicht mehr die Qualität des ersten Teils. Nichtsdestotrotz ein faszinierendes Bild einer gar nicht so guten alten Zeit.