Rezension

Aufwühlende Familiengeschichte

Brüderchen -

Brüderchen
von Clara Dupont-Monod

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn von einem schwerbehinderten Kind die Rede ist, denkt man oft an die zusätzliche Belastung für die Eltern, doch selten fragt man sich, wie es dabei den Geschwistern geht. Eine vage Vorstellung davon bekam ich in diesem Roman. Das titelgebende dritte Kind in der namenlosen Familie kann weder sehen, sprechen noch laufen. Im ersten Kapitel wird erzählt, wie der älteste Bruder damit umgeht. Der Draufgänger verwandelt sich immer mehr zu einem fürsorglichen Beschützer, der eine starke emotionale Bindung zu dem Brüderchen aufbaut und seinen ganzen Lebenssinn auf ihn fokussiert.

Seine jüngere Schwester, scheinbar fröhlicher Natur, wird auch hin und wieder erwähnt, doch wie sie die gleiche Situation tatsächlich erlebt, erfahren wir erst im zweiten Kapitel. Ihre Sicht ist eine völlig andere, und ihr Leid und ihre kämpferische Haltung haben mich schlichtweg umgehauen.

Die Autorin beschreibt, welche Auswirkungen das unangepasste Kind auf diese Familie hat: für den einen verkörpert es Unschuld, eine reine Seele und ist eine Bereicherung, für den anderen raubt es die gesamte Energie der Familie und lässt andere Mitglieder vereinsamen. Was für eine originelle Idee, die Geschichte aus der Perspektive der Mauersteine im Hof erzählen zu lassen. Dieser Roman, der die raue Natur der Cevennen mit einbezieht und gekonnt zwischen zärtlichen, archaischen und tieftraurigen Gefühlen schwankt, zählt für mich zu den stärksten, die ich in letzter Zeit gelesen habe!