Rezension

Autorin Anja Jonuleit verknüpft in diesem wundervollen Roman auf raffinierte Weise Fakt mit Fiktion. Eine absolute Leseempfehlung!

Das letzte Bild -

Das letzte Bild
von Anja Jonuleit

Norwegens berühmter Cold Case bekommt eine Geschichte

Als 1970 im Isdal, in der Nähe von Bergen eine unbekannte Tote aufgefunden wird, stehen die örtlichen Ermittlungsbehörden vor einem Rätsel. Zwar gibt es Indizien und Beweise, nichts davon reicht allerdings aus, um die näheren Umstände des Todes, geschweige denn die Identität der Frau zu klären. Auch moderne Analysemethoden liefern im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte nur begrenzte Informationen. Inzwischen handelt es sich um einen waschechten Cold Case, denn auch heute noch, Rund 50 Jahre später, hat die als "Isdal-Frau" bekannt gewordene Tote, weder Name, noch Geschichte. 

Mit ihrem neuen Roman "Das letzte Bild", erschienen am 20.08.2021 im dtv Verlag, hat Autorin Anja Jonuleit dieser berühmten Unbekannten nun endlich eine Vergangenheit geschenkt und eine Familie, zu der sie nach all den Jahren heimkehren kann. Durch herausragende Recherchearbeit, viel Hingabe zum Detail und literarischer Raffinesse ist hier ein wunderbarer Roman entstanden, der es versteht seine Leser von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln. 

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive zweier Frauen. Zum einen ist da Eva, die in der Gegenwart auf unerwartete Weise mit dem Fall konfrontiert wird. Bei dem allmorgendlichen Gang zum Bäcker, blickt ihr auf einmal ihr eigenes Gesicht aus einer Tageszeitung entgegen. Doch ein genauerer Blick auf die Schlagzeile verrät ihr, dass es sich bei der abgebildeten Frau um eine unbekannte Tote handelt, die man Anfang der 70er Jahre in einem abgelegenen Tal Norwegens gefunden hat: Die Isdal-Frau. Wie hypnotisiert von dem Abbild, das ihr und dem ihrer Mutter in jungen Jahren so gleicht, beschließt sie, ebendiese aufzusuchen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Und der Schock könnte für Eva kaum größer sein sein, als sie von der Zwillingsschwester erfährt, die ihre Mutter in den Wirren des zweiten Weltkrieges für immer verloren hat. 

Während Eva also keine andere Wahl hat, als selbst nach Norwegen zu Reisen, um das unglückliche Schicksal ihrer Tante Margarete zu ergründen, erfahren wir aus der Perspektive Margaretes, was mit ihr geschah, nachdem sie von ihrer Familie getrennt wurde. Diesen Verlust nie überwindend, begibt sich Marguerite (wie sie inzwischen genannt wird) zeitlebens auf die mäandernde Suche nach den Orten ihrer Kindheit, in der vagen Hoffnung irgendeinen Hinweis auf den Verbleib von Mutter und Schwester zu finden. Ihre Bemühungen führen sie quer durch Europa und schlussendlich nach Norwegen, nichts ahnend dass sie mit ihren privaten  Nachforschungen in ein Wespennest sticht, das sie alles kosten wird. 

Das Spannende an diesem Roman war, wie ich finde, dass das Ende bereits zu Beginn feststand. Der Leser weiß, dass die Geschichte darauf zusteuert, dass Marguerite irgendwann als Tote im Isdal endet. Es geht also einzig und allein um den Lebensweg, der sie dorthin geführt hat und es war genau das, was mich an jede Zeile, jedes Wort und jeden Buchstaben gebunden hat. Sich von der Geschichte loszureißen wurde immer schwerer, je näher ich dem Ende kam.
Der Perspektivwechsel zwischen Eva und Margeruite hat ebenfalls einen großen Beitrag zur Spannung geleistet. Dadurch, dass man die Geschichte auf diesen zwei Zeitebenen erlebt, entwickelt sich eine unglaublich packende Dynamik bei der Auflösung des Falls. Aus Marguerites Sicht, die natürlich nicht weiß, was sie eines Tages erwarten wird, nähert man sich den Ereignissen im Isdal in chronologischer Reihenfolge. Ein Hindernislauf, bei dem man die Ziellinie schon am Horizont erkennen kann. Evas Recherchen in dem Fall hingegen entsprechen einer klassischen Ermittlung; ein Puzzle mit Teilen, die einfach nicht richtig zusammen passen wollen, bis der große Durchbruch kommt. 

Natürlich macht aber die spannende Idee allein keinen tollen Roman aus. Der Schreibstil muss die Idee auch tragen können, sodass die Geschichte in den Gedanken des Lesers zum Leben erweckt werden kann. Anja Jonuleit hat mich hier keines Wegs enttäuscht. Ihr Schreibstil ist lebendig, mitreißend und lässt einen guten Lesefluss zu. Bei mir hat es nur wenige Seiten gebraucht, damit ich voll und ganz in der Geschichte eintauchen konnte. 

Zur Handlung will ich gar nicht mehr sagen, als das was oben schon steht. Ich war vorab sehr gespannt, wie es der Autorin gelungen ist, diesen realen Fall so auszugestalten, dass die Geschichte am Ende nicht nur Sinn ergibt, sondern mir als Leserin auch glaubhaft erscheint. Jetzt im Nachhinein hat es für meine Begriffe mehr als gut funktioniert. Beim Lesen kommt man nicht drum herum, die unzähligen Details wahrzunehmen, die diesen Fall begleiten; angefangen mit den nicht zu einanderpassenden Tatumständen und Indizien, bis hin zu den verworrenen Aussagen von Zeugen. Da habe ich schon angefangen mich zu fragen, wie das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion in dieser Geschichte ist. Hierzu war das Nachwort der Autorin sehr aufschlussreich, in dem sie darlegt, wie ihre Recherchearbeit abgelaufen ist und wie sie sich diesem Fall von erzählerischer Seite aus genähert hat. Ich bin nach wie vor schwer beeindruckt, wie Frau Jonuleit es geschafft hat, so schlüssige Erklärungen für Hinweise zu konstruieren (die so auch in den original Ermittungsakten hinterlegt sind), die nicht einmal auf den zweiten oder dritten Blick Sinn zu ergeben scheinen.
Diese Gewissenhaftigkeit und Hingabe bei der Recherche spiegelt sich im ganzen Roman wieder.

Anja Jonuleit ist hier ein richtiges Kunststück geglückt. Natürlich ist und bleibt die Handlung fiktiv und doch hat die Autorin es geschafft mich glauben zu lassen, dass es der Isdal-Frau genauso ergangen sein könnte. Sie hat der anonymen Toten eine Geschichte gegeben. 

Für mich ist "Das letzte Bild"  definitiv ein Jahreshighlight und verdient daher alle Sternchen, die es zu vergeben gibt. Eine absolute Leseempfehlung