Rezension

Besonders wertvoll - nicht nur für unmittelbar Betroffene :-)

Neben der Spur, aber auf dem Weg - Mina Teichert

Neben der Spur, aber auf dem Weg
von Mina Teichert

Bewertet mit 5 Sternen

Großartig und sehr lesenswert - eine beeindruckende Persönlichkeit :-)

Autorin:
Mina Teichert wurde im Januar 1978 in Bremen geboren. Über einige berufliche Umwege wurde sie zunächst Fotografin bevor sie dann als „Mina Kamp“ zwei Fantasy-Jugendromane veröffentlichte. Außerdem erschienen Kurzgeschichten von ihr in verschiedenen Anthologien zu ganz unterschiedlichen Themen. Im September 2016 publizierte sie im Self-Publishing ihren 1. Frauen-Roman „Finnischer Schnee von gestern“. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann, ihrer nunmehr 14jährigen Tochter und zahlreichen Tieren auf einem landwirtschaftlichen Hof in der Nähe von Bremen. Mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte „Neben der Spur, aber auf dem Weg“ über ihr Leben mit ADS landete sie einen Spiegel-Bestseller. Weitere literarische Werke von ihr sind in Arbeit.

Handlung:
Mina Teichert merkt schon im Kindesalter, dass ihr Leben anders ist: Sie ist verträumt, tollpatschig – neigt zu Missgeschicken und Unfällen, hat Konzentrationsschwächen und ist immer etwas chaotisch. All dies sind Dinge, die ihr in der Jugend und als junge Erwachsene zunehmend zu schaffen machen – so bricht sie gleich mehrere Ausbildungen ab, erkrankt an Magersucht und Bulimie und landet in einer psychiatrischen Klinik mit den Diagnosen „Borderline-Störung“ und „Depression“. Ihr bis dahin rasanter Lebensstil wird zudem geprägt vom Feiern, Drogen- und Alkohol-Konsum und wechselnden Beziehungen. Erst mit Mitte 20, nach zahlreichen Fehldiagnosen und dem Aufeinandertreffen mit etlichen empathielosen Personen, erhält sie nach einer Panik-Attacke die Diagnose „ADS“. Mit Humor nimmt Mina Teichert diese Diagnose an und kann endlich damit beginnen, ihr Leben entsprechend dieser Schwäche zu strukturieren und ganz neue Stärken an sich zu entdecken.

Fazit:
Kaufanreiz für dieses Buch war für mich der sehr sympathische Auftritt von Mina Teichert in der WDR-Talkshow „Kölner Treff“, wo sie ihr Buch vorstellte. So viele Dinge, die sie dort äußerte über ihr Leben mit ADS, kamen mir irgendwie sehr bekannt vor und haben mich neugierig gemacht, was da noch alles auf mich selbst zutreffen wird und ob mein eigenes, ebenfalls nicht immer so einfaches Leben auch irgendwas mit ADS zu tun haben könnte.
 Dieses Buch ist in kein Genre so richtig einzuordnen und man bekommt von allem Etwas: Biographie, Erfahrungsbericht, (medizinischer) Ratgeber, Sachbuch, Lifestyle-Ratgeber und – Dank des wunderbar humorvollen Schreibstils von Mina Teichert zu diesem ernsten Thema – auch einen autobiographischen Roman.
 Das Buch ist mit seinen 288 Seiten in 5 große Teilbereiche mit jeweils mehreren Unterkapiteln aufgeteilt + Anhang mit Tipps für das alltägliche Leben mit AD(H)S und dem Nachwort einer Psychologin. Das Schriftbild war für meine Augen ein wenig zu klein gewählt und ein paar Schreibfehler habe ich auch gefunden – darüber kann man bei dem unglaublich lesenswerten Inhalt des Buches auch mal hinwegsehen.
 Auf dem Cover ist Mina Teichert selbst zu sehen, wie sie mit einem Koffer in der Hand auf Bahnschienen balanciert – versinnbildlichend für ihr Leben mit ADS: Mit schwerem Gepäck auf schmalem Grat immer vorwärts die Balance im Leben zu halten.
 Für mich war das ein Buch mit Wow-Effekt! Ich habe mich selbst an so vielen Stellen darin wiedergefunden – Stichwort u. a. „Reizfilterschwäche“: Auch ich war immer verträumt, konnte mich nie besonders lange auf eine einzige Sache konzentrieren, war etwas grobmotorisch (Sport, Basteln und Ausmalen gehörten auch nie zu meinen Stärken), manchmal ein wenig verpeilt, fühle mich unwohl in großen Menschengruppen (angefangen bei Feiern usw.); nehme Gerüche, Geschmack und Töne außergewöhnlich intensiv wahr, kann mich sehr schlecht entspannen und abschalten – habe immer Einschlafstörungen, bin sehr sensibel, empathisch und eher ängstlich, mag Ruhe viel lieber als Trubel und hatte auch immer wieder ähnliche Probleme wie Mina Teichert im Berufsleben – hatte also das Gefühl immer hinter den Erwartungen anderer zurückzubleiben, weil ich lange Zeit immer wieder Tätigkeiten ausgeübt habe, die mir so gar nicht lagen.
 Der Schreibstil von Mina Teichert ist wirklich großartig: fesselnd, humorvoll, intelligent – irgendwie, wie auch ihre Persönlichkeit, vielleicht auch ein wenig ungewöhnlich, wenn man zunächst ein Buch erwartet, dass zwischen Erfahrungsbericht, Sachbuch und Ratgeber liegen soll, einen aber dann mit einer sehr persönlichen Lebensgeschichte überrascht. Sie gibt sehr offen Einblick in ihre Kindheit und Jugend und in ihr Leben in der Zeit vor der Diagnose, als sie noch mit Fehldiagnosen und Falschbehandlungen kämpfte und sich in Depression und Magersucht verlor. Man erhält im Rahmen von Minas Lebensgeschichte sehr viele wertvolle Informationen zu ADS: Mir selbst war z. B. nicht bekannt, dass ADS die ruhige Version (ohne Hyperaktivität) von ADHS ist und so eher bei Mädchen oder Frauen zu finden ist und aufgrund ihres ruhigeren Verlaufs oft sehr spät erkannt wird. Auch die Tipps für Betroffene im Anhang sind hilfreich – und wem die nicht reichen, der findet darin wiederum weitere Internet-Links, wo er Hilfe findet.
 Mina Teichert ist ein liebenswerter, beeindruckender Mensch, der zu seinen Schwächen steht und trotz zunächst vieler Rückschläge im Leben gerade daraus neue Stärke gewonnen hat. Glücklicherweise hat sie sich nie von ihrer eigentlichen Berufung, dem Schreiben, abbringen lassen – ich wünschte, ich wäre auch so konsequent gewesen. Sie hat meinen größten Respekt und Anerkennung, wie sie ihr Leben meistert und damit an die Öffentlichkeit geht und anderen Mut macht!
 Ein sehr wertvolles Buch, nicht nur für unmittelbar von AD(H)S Betroffene, sondern auch für Menschen, die diese Erkrankung besser verstehen möchten.
 Hierfür gibt es eine ganz besondere 5*****-Leseempfehlung meinerseits

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