Rezension

Das Tanten-Universum - oder: Frauenbilder der 20er bis 50er Jahre

Die Tanten -

Die Tanten
von Nicola Denis

Bewertet mit 5 Sternen

An Tanten (und damit Schwägerinnen) mangelte es in Nicola Denis‘ Familie nicht. Ihre Großeltern mütterlicherseits hatten 12 Kinder, von denen zwei Töchter dazu bestimmt wurden, ledig zu bleiben und einmal die alternden Eltern zu pflegen. Gleich zwei Töchter - vermutlich brauchte ein Arzthaushalt damals mehr als eine ledige Tochter als Gratis-Arbeitskraft. Der Vater der Autorin wurde erst nach vier Töchtern und einem älteren Bruder 1924 geboren und noch weit über die Studienzeit von seinen ledigen Tanten finanziert. Eine Frau, die in einen derartigen Tanten-Klüngel einheiratete, musste schlimmstenfalls zu ihrem Mann ziehen, um als „Fremde“ mit Argusaugen kontrolliert zu werden, ob sie für den jungen Mann auch gut genug wäre. Wer in den 50ern Schwägerinnen hatte, brauchte Schwiegermütter offenbar kaum zu fürchten. Als Kind wuchs ich u. a. mit einer Tante auf, die unsere Möbel mit dem Finger auf Staub kontrollierte. Denis‘ Vater wäre für mich damals allein deshalb ein Traummann gewesen, weil er nach der Hochzeit als Geologe fern des Tantenhaushalts in Kolumbien arbeiten sollte. Sicher nicht der schlechteste Start in die junge Ehe.

Nicola Denis bietet tiefen Einblick in die Generation der Schwestern ihres Vaters (die älteren drei wurden zwischen 1907 und 1917 geboren) und als Fachärztin für Nervenheilkunde, Apothekerin und chemisch-technische Assistentin in einem Krankenhaus für ihre Generation ungewöhnlich hoch qualifiziert waren. Frauen wie sie hielten während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs Wirtschaft und Gesundheitssystem am Laufen. Die Stützen der Gesellschaft mussten jedoch 1945 nicht selten ihre Arbeitsplätze für männliche Kriegsheimkehrer räumen. Ob die Tanten der väterlichen Linie wirklich alle ihren „Verlobten“ im Krieg verloren hatten oder für ihr Singledasein andere Gründe vorlagen, wurde in der Familie erfolgreich unter den Teppich gekehrt. Dass das (katholisch geprägte) Frauenbild ihrer Epoche ursächlich gewesen sein könnte oder der herablassende Ton, in dem Frauen damals als schwach, leidend oder nervenkrank etikettiert wurden, scheint mir nicht abwegig. Das Tanten-Universum zeigt einige Widersprüche auf zwischen dem Bild der “schwachen“ Frauen, die nicht selten 10 und mehr Kinder zur Welt brachten, aber auch zwischen Frauen als angeblich finanzielle Last für die Gesellschaft und dem respektablen Auskommen, das Frauenberufe den Tanten boten.

Interessiert las ich über den Wissenstand jener Zeit über Depressionen, über die Furcht, im Nationalsozialismus als erbkrank zu gelten und die mehr oder weniger offene Missgunst, mit der Frauen ihre Geschlechtsgenossinnen als Konkurrentinnen wahrnahmen. Karriere oder keine, Kinder oder keine, das Gras auf der anderen Seite der Weide war stets grüner als das eigene. Auch eine amüsante, penibel recherchierte Sozialstudie, die mir die Augen öffnete für die schwäbisch-katholische Variante meiner Tante ...