Rezension

Das war mal so eine ganz andere Welt...

Die Reise ins Reich - Tobias Ginsburg

Die Reise ins Reich
von Tobias Ginsburg

Bewertet mit 5 Sternen

Ein abenteuerlicher Versuch ist das, den Undercoverjude (Eigenbezeichnung des Autors) Tobias Ginsburg da unternommen hat, die Natur des Reichsbürgers zu skizzieren.
Personen aus dem Buch werde ich nicht benennen, jede Bühne wäre eine zu viel, aber wer das Buch liest, dem lege ich nahe mal einige der erwähnten Namen zu googlen. Gibt auch Videos, bei denen sich überwiegend Fremdscham einstellt, dann ist da aber die üble Gewissheit, dass solche Spinner durchaus ernstgenommen werden.
Es sind Menschen, überwiegender Anzahl ältere Männer, viele mehrfach gescheiterte Existenzen, manche hauptberuflich staatenlos, viele BRD-Leugner, einige deutsche Könige, Nazis, Rassisten, braune Esoteriker und Verschwörungstheoretiker, die Ginsburg während seiner Recherchen trifft. Aber nicht alle lassen sich so einfach einordnen. Eins hat Ginsburg gelernt und in seinem Buch zu vermitteln versucht: Oberflächlich Reichsbürger können erschreckend normal wirken. Wahnsinn ist nicht so einfach zu erkennen.
Es scheint nur zwei grob zu unterscheidende Arten von Reichsbürgern zu geben: Die, die machen (was, ist denen selbst manchmal nicht so klar); Buden mit Flyern und Mikrofonen, einen eigenen Staat auf baufälligen Geländen, von denen sie weginsolventiert werden und Politik in eigenen Parteien. Und dann gibts noch die, die folgen. So wie das Dritte Reich eben einen Führer hatte, so sehnen sich diese Reichsbürger eben danach wieder von einem Vorbild geführt zu werden.
Eins jedoch eint sie alle: Wut auf ein System, aus dem sie sich ausgeklammert fühlen. Es ist eine regelrechte Hass-Manufaktur, in der Ginsburg sich mehr als einmal gefragt hat, ob er eigentlich in einer unmittelbaren Gefahr schwebt, denn Ginsburg hat Feldforschung betrieben: Er hat sich ein Alter Ego, mitsamt Facebook-Identität und eigener Internetpräsenz mit Meinung zugelegt. Als alternativer Reporter „Tobias Patera“ mischt er sich unters Publikum, lauscht zwielichtigen Veranstaltungen, auf denen Redner und Publikum gleichermaßen über Flüchtlinge, Umvolkung, Regierungsumstürze und am Rande auch über Genderwahn schimpfen, wenn sie nicht gerade den Holocaust leugnen.
Frauen scheinen in dieser Szenerie überhaupt nur schmückendes Beiwerk zu sein wie "Souvenier"-Tische mit rechtspopulistischen Zeitschriften, Jutebeuteln, Buttons besonders anhand der T-Shirt-Größen in L und XL zeigen - Frauengrößen will der Reichsbürger nicht haben. Die sollen brav hinterherlaufen und dem Mann dabei zustimmen wie er Politik macht (oder was er dafür hält).
Das Wirre ist, dass sich die meisten dieser Reichsbürger mit fragwürdig einseitigen Ideologien nicht als Nazis oder Rassisten sehen. Ihre fremdenfeindlichen Parolen tragen sie ganz selbstverständlich nebem dem Konterfei von Rosa Luxemburg oder den Geschwistern Scholl auf ihren Transparenten und fühlen sich als Opfer eines Systems, das sie zu bekämpfen versuchen. Nazis sind immer die anderen, sie selbst jedoch der Widerstand. Ganz normaler Wahnsinn und paranoider Verdolgungswahn geben sich auf einer politischen Ebene die Klinke in die Hand.

Es ist ein skurriles Buch, das man da vor den Augen hat und gar nicht glauben kann, was man da liest, wie Menschen Teile von Realitäten so dermaßen ausblenden können, um in ihrem eigenen Weltbild Helden zu sein und weder sich noch die Ereignisse politisch einzuordnen vermögen.

Kommentare

Emswashed kommentierte am 27. März 2020 um 09:57

Was mich nur immer wieder wundert, ist die Einstellung dieser Leute: Sie lehnen den Staat ab, nutzen aber dessen Einrichtungen, als hätten sie sie selbst erschaffen (Schule, Ausbildung, Infrastruktur, Gesundheitssystem....).

Ich habe schon so manches im TV darüber gesehen, ein Buch darüber zu lesen, wäre eigentlich mal angebracht. Danke für die Vostellung!

Paperboat kommentierte am 27. März 2020 um 10:18

Oh, wenn man über den König von Deutschland mit seinem Chauffeur und selbstgebasteltem Führerschein des Königreichs Deutschlands (mittlerweile insolvent, bzw. im Staatsbankrott) liest, dann fährt der im Stau einfach auf dem Standstreifen, weil "sein" Führerschein ihm das erlaubt. Eine eigene Krankenkasse hat übrigens auch dieses ominöse Königreich besessen.
Lief allerdings ein bisschen wie bei Osho zu seiner Bhagwan-Zeit: Das Oberhaupt hat das gesamte Geld verpulvert, während alle anderen nur geschuftet haben.

Solche Leute würden ganz gerne gewisse staatliche Angebote ersetzen. Schule zum Beispiel, damit man den Holocaust erstmal aus allen Geschichtsbüchern streichen kann. GEZ zahlen die meisten von denen ja schon gar nicht mehr oder Steuern im Allgemeinen, weil man ja weder die Lügenpresse noch eine angebliche BRD GmbH unterstützen möchte.

Selbst dem Autor ist in all dem Verschwörungswirrwarr ein wenig schwindelig geworden, aber das Buch war absolut lesenswert. Ich bin überhaupt nur drauf gestoßen, weil eine Kundin bei uns in der Buchhandlung es bei mir bestellt hatte und ich neugierig nachgeschaut hab, nachdem sie weg war. Da sie sich aber noch bei mir im Laden befunden hat, nachdem ich eine zusätzliche Bestellung für mich abgeschickt habe, ging ich nochmal zu ihr hin und bedankte mich dafür, dass sie mich infiziert hat mit dem Buchtipp. :D

Emswashed kommentierte am 27. März 2020 um 13:04

Wow, eine Rückmeldung von der Buchhändlerin, da wär ich als Kunde aber furchtbar stolz. Das ist sehr aufmunternd (lieb) von Dir!

Paperboat kommentierte am 30. März 2020 um 18:12

Aber klar, warum auch nicht! (Ich bin aber noch keine Buchhändlerin, noch muss das Küken sich die Federn verdienen)
Ich bin letztlich ja auch Konsument, warum soll ich da nicht jemandem zu einer interessanten Inspiration nicht einen Dank abgeben? Für mich selbstverständlich! ♥