Rezension

Ein auf beschwerende Weise unterhaltsames Buch

Gegen Morgen - Deniz Utlu

Gegen Morgen
von Deniz Utlu

Bewertet mit 4.5 Sternen

Autor: Deniz Utlu, Genre: Fiktion, Verlag: Suhrkamp Verlag, ISBN: 978-3-518-42898-6, 1. Auflage 2019, 267 Seiten, Preis Hardcover €22,00

Als Kara von Berlin nach Frankfurt fliegt, gerät das Flugzeug in ein schweres Gewitter. Im Angesicht des drohenden Absturzes scheint plötzlich Ramón wenige Reihen vor ihm zu sitzen. Ramón, der nie eingeladen war und trotzdem immer kam, der bei Kara und Karas bestem Freund Vince auf dem Sofa in der Küche übernachtete, bis er von einem Tag auf den anderen verschwand. Nach der Notlandung kehrt Kara ruhelos nach Berlin zurück, wo er sich auf die Suche nach Ramón begibt und damit auf die Spuren seiner eigenen Vergangenheit. Er findet den Verlorengeglaubten in einer Plattenbausiedlung und bietet ihm an, in Vince’ ehemaliges Zimmer zu ziehen. Dort bekommt Ramón eines Nachts Besuch von Fremden. Wenig später ist er wieder verschwunden. Dass es diesmal ein Abschied für immer sein könnte, wird Kara bewusst, als er ihm bis nach Paris folgt, dort aber nur mehr eine Stadt in Aufruhr findet.Deniz Utlu erzählt in Gegen Morgen von einer tiefen Erschütterung und fragt, was uns ausmacht: das, was wir zurückgelassen haben, oder das, was vor uns liegt. In flirrenden Bildern spürt er den Versäumnissen und Potentialen eines Lebens nach sowie der Menschlichkeit, die da beginnt, wo wir nicht auf uns selbst, sondern auf andere achten. (Klappentext)

Dann müsste ich jetzt nicht zum Flughafen fahren, ins Flugzeug steigen, zu Nadja nach Frankfurt fliegen. Ich will nicht. Lieber knete ich den Riemen meiner Tasche. In dieser Küche. Auf diesem Stuhl. Immer hier. S. 9

Ich sehe, wie angespannt er auf seinem Stuhl sitzt, spüre seine Nervosität. Dann fliegt er doch und wie eine selbsterfüllende Prophezeiung gerät das Flugzeug in heftige Turbulenzen. Einige Passagiere verabschieden sich schon im Geiste von ihren Liebsten, so auch der Protagonist Kara. Seine Mutter würde nicht ertragen wenn er jetzt sterben würde. Dann sieht er seinen alten Kumpel Ramon, der immer da war, obwohl niemand ihm signalisierte, dass man ihn wollte, bis er wieder weg war. 

Der Autor schickt seinen Ich-Erzähler auf Spurensuche, zu seiner Mutter, in die alte Wohnung, in der sie jetzt allein wohnt und altert. In die Zimmer der alten Studentenbude, in der er immer noch lebt und lässt ihn alle prägnanten Stellen seines Lebens noch einmal erfahren. Sein Freund Vince, der wusste was er wollte und seine Ziele verfolgte. Ramon, der einfach bei ihnen abhing und planlos dahintrieb. Und er selbst, der sich für nichts entscheiden kann. Seine Freundin Nadja, die genau weiß was sie will und deren Lebensplanung ihn erdrückt und allein zurücklässt. 

Als er Ramons Fußabdrücken bis nach Paris folgt, landet er in den Wirren terroristischer Anschläge. 

Fazit: Die Geschichte enthält wundervolle Erzählsequenzen. Die Stimmung ist gepresst, fast depressiv und nachdenklich. Deniz Utlu schafft, dass mich die Unentschlossenheit, des Protagonisten, seine Art der Sinnsuche unangenehm berührt. Ich möchte ihn schubsen, ihm sagen, dass er seine Zeit verplempert aber genau das hat seine Freundin auch schon gemacht, erfolglos. Ein auf beschwerende Weise unterhaltsames Buch. 

Der Autor:

Wortmeldungen-Literaturpreis 2022 (Shortlist)

Alfred-Döblin-Preis 2021

»Text & Sprache« 2020 (Shortlist)

Alfred-Döblin-Stipendium 2020

Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover 2019