Rezension

Ein poetischer Genuss

Fünf Viertelstunden bis zum Meer - Ernest Kwast

Fünf Viertelstunden bis zum Meer
von Ernest Kwast

Bewertet mit 5 Sternen

~~Klappentext
Juli 1945, ein heißer Sommertag am Strand von San Cataldo, am östlichen Ufer von Italiens Absatz: Fasziniert beobachten die Brüder Ezio und Alberto die Mädchen am Strand, die in hochgeschlossenen Badeanzügen vorbeistolzieren. Bis die 20-jährige Giovanna Berlucchi aus der Brandung auftaucht – in einem Zweiteiler. So etwas haben die Jungen noch nie gesehen. Ezio verliebt sich leidenschaftlich in die schöne donna Pugliese, und im Laufe dieses Sommers, in dem der Zweiteiler nicht die einzige Offenbarung bleibt, wird er ihr zwei Heiratsanträge machen. Doch Giovanna liebt das Meer und ihre Freiheit, sie hat die „Lunge eines Delfins“ und kann länger tauchen als drei ihrer Schwestern zusammen: Auf beide Anträge antwortet sie, indem sie zum Meer läuft und in den Wellen verschwindet. Aus Schmach und Kummer flieht Ezio, so weit er kann, vom Süden in den Norden Italiens. Hier wird er Apfelpflücker, und in den kalten Südtiroler Wintern melkt er Kühe – doch nie vergisst er Giovanna und den gemeinsam verbrachten Sommer am Meer. Über sechs Jahrzehnte sehnt er sich nach seiner ersten und einzigen großen Liebe. Da trifft ein Brief von ihr ein.

 

„Die Jahreszeiten wechseln, aber die Tage sind alle gleich. Heute riecht nach gestern, und gestern schmeckt wie vorgestern, und vorgestern klingt wie alle Tage davor. Das Einzige, was die Tage noch unterscheidet, ist das Gefühl. Die Sehnsucht die immer größer wird, die mit jedem verstreichenden Tag zu wachsen scheint.“ (Seite 10)

Ezio und Giovanna treffen sich im Sommer 1945 zum ersten Mal. Es ist der Sommer nach Kriegsende. Das Leben nimmt langsam wieder seinen Lauf. Ezio ist auf den ersten Blich hoffnungslos in Giovanna verliebt. So sehr, dass er ihr nach kurzer Zeit einen Heiratsantrag macht. Doch Giovanna rennt davon und stürzt sich ins Meer. Die beiden verbringen einen ganzen Tag am Strand. Am Abend fragt er sie noch einmal und wieder rennt Giovanna ins Meer und schwimmt davon.

„Man darf den Zusammenhang zwischen Lachen und Liebe nicht unterschätzen, aber ein leichtherziges Lachen ist etwas anderes als ein Lachen, das Liebe beantworten will. Vielleicht sogar das Gegenteil: ein Lachen, das der Liebe davonlaufen, sie auf Distanz halten will, weit weg vom Herzen.“ (Seite 45)

Ezio beschließt direkt am nächsten Tag die Stadt zu verlassen. Er kann nicht damit leben, dass Giovanna ihn abweist. Und so reist er tausende  Kilometer von ihr weg. Er beginnt ein neues Leben als Apfelpflücker. Doch Giovanna kann er nicht vergessen. Eines Tages trifft ein Brief von ihr ein, der sein ganzes Leben auf den Kopf stellt.

„Dann kam die Sehnsucht. Die Sehnsucht, die allmählich wächst, wenn sie nicht gestillt wird, die immer stärker wird, solange Fragen bleiben. Die Sehnsucht, die endlich aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit emporgestiegen war.“ (Seite 86)

Was für ein wunderbares kleines Buch.  Zuerst ist einmal da dieser ungewöhnliche Stil. Es gibt keine Kapitel, sondern nur Abschnitte. Die Geschichte wechselt immer zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Dabei werden zeitgeschichtliche Details eingebettet, was mir sehr gut gefallen hat. Auch dieses „Abschweifen“ der Geschichte in Nebengeschichten, die dann immer mit dem Satz endeten … aber das ist eine ganz andere Geschichte … einfach genial gemacht. Das Zeigt, dass das Leben unzählige Geschichten bereithält, die es vielleicht wert sind aufgeschrieben zu werden.

„Das Gedächtnis ist unzuverlässig und wählerisch, aber nicht wirr. Es stellt Zusammenhänge her: zwischen Düften und Feldern, zwischen Geräuschen und Plätzen mit alten Gebäuden, zwischen Berührungen und Menschen. Die zarten, durchscheinenden Fühler von Giovannas Gedächtnis ertasten einen Kuss, einen Mund, einen Mann.“ (Seite 85)

Von der Sprache fühle ich mich einfach nur verzaubert. Dem Autor gelingt es immer wieder mich in die Situationen und Orte hinein zu bringen. Ich hatte oft das Gefühl ich säße als Zuschauer am Rande, aber dennoch mitten im Geschehen. Die Orte, Handlungen und Gefühle sind so beschrieben, als könne man sie selbst erleben oder fühlen.

Ernest van der Kwast hat hier ein ganz besonderes Stück Prosa geschaffen. Diese Geschichte macht Mut an die Liebe zu glauben, an den Menschen den man einst in sein Herz geschlossen hat. Auch wenn es manchmal bedeutet 60 Jahre seines Lebens zu warten. Wahre Liebe stirbt nicht.

„Sie sah in sofort, den Jungen, der ein alter Mann war. Vorsichtig stieg Ezio aus. Ein anderer Fahrgast wollte ihm helfen, aber Ezio wehrte ab. Wenn er sich Zeit nahm, kam er alleine zurecht.
Dann sah er sie. Die barfüßige Verzauberung von achtzig Jahren. Er sah ihr weißes Haar und die Falten in ihrem Gesicht, und er sah ihre Schönheit, die nirgendwo mehr zu sehen war.“ (Seite 95)

Ich habe dieses Buch ganz langsam gelesen, weil ich jede einzelne Seite genießen wollte. Denn das ist dieses Buch ... ein poetischer Genuss♥