Rezension

Ein untypischer Dickens

Charles Dickens: Eine Geschichte von zwei Städten - Dickens Charles

Charles Dickens: Eine Geschichte von zwei Städten
von Dickens Charles

Bewertet mit 4 Sternen

"Es war die beste, es war die schlechteste aller Zeiten."

18. Jahrhundert, Paris und London: Beinahe zwei Jahrzehnte saß Manette, ein französischer Arzt, unschuldig in der Bastille. Nach seiner Rettung kehrt er Frankreich traumatisiert den Rücken und verbringt sein weiteres Leben mit seiner Tochter Lucie in England. Derweil droht die angespannte, vorrevolutionäre Stimmung in Frankreich zu explodieren...

"Aber dies alles war bloß der Anfang."

Die folgende Rezension bezieht sich auf die illustrierte Ausgabe des Berthelsmann-Verlags aus der Reihe 'Die große Bibliothek der Weltliteratur' mit dem Titel 'Eine Geschichte zweier Städte' und der Übersetzung von Julius Seybt. Tipp am Rande: Lest nicht die Klappentexte anderer Ausgaben! Furchtbarer Spoiler!

Dickens wurde und wird bis heute für die atmosphärischen Einblicke, die seine Romane vom 19. Jahrhundert gewähren, geschätzt. 'Eine Geschichte zweier Städte' unterscheidet sich meiner Meinung nach in mehreren Punkten von Dickens' anderen Werken, denn hier schrieb er über eine Zeit, die er selbst nicht erlebte.

Der Roman ist aufgrund der gewählten Zeitspanne (1775 bis 1792) weitaus düsterer, blutiger und sticht allein schon deshalb hervor, dass das knappe (!) und somit übersichtliche Personenregister keinerlei skurrile Nebenfiguren aufweist. Dickens' typischer Humor ist hier nicht vorzufinden, dafür aber eine sehr dichte und beklemmende Atmosphäre, die sich nahezu durch das gesamte Buch erstreckt.

"Saint Antoine war an diesem Morgen eine gewaltige schwarze Masse hin und her wogender Vogelscheuchen gewesen, und über diesem Meer von Köpfen funkelte es häufig hell, wenn Stahlklingen und Bajonette in der Sonne glänzten. Ein fürchterliches Gebrüll erscholl aus der Kehle Saint Antoines, ein Wald nackter Arme durchfegte die Luft wie verdorrte Baumäste im Wintersturm, und jede Hand umklammerte krampfhaft eine Waffe oder waffenähnliche Dinge, die die Tiefe ausspie, einerlei woher."

Wichtig ist zu wissen, dass Dickens in erster Linie nicht den historischen Hintergrund beleuchtete (Namen wie Danton oder Robespierre werden nicht einmal erwähnt), sondern seinen Fokus auf die kleinen Leute, das Elend und die menschliche Verkommenheit richtete. Interessant fand ich außerdem, dass die stringent angelegte Geschichte, die übrigens beinahe keine Nebenhandlungen beinhaltet, Gegenüberstellungen verknüpft und mit ihnen spielt: London und Paris, englisches und französisches Gericht, den einen und den anderen Charakter (um spoilerfrei zu bleiben, nenne ich keine Namen). Gerade diese Verbindung der zwei Städte bzw. Länder ist meiner Meinung nach sehr gelungen.

Die Figuren haben alle etwas eigenes, die eine oder andere lässt dabei tief in das zerrüttete Seelenleben blicken; Gegenstände, wie das englische Bankwesen oder die Guillotine, erwachen hier quasi zu einem Wesen, was mir gut gefiel. Das Personal, das Dickens zusammenstellte, ergeben ein stimmungsvolles Bild von mehreren Gesellschaftsschichten. Die Entwicklung eines bestimmten Charakters kam mir leider etwas zu abrupt; hier hätte ich mir mehr Zeit zur Entfaltung gewünscht. Gelungen wiederum fand ich, wenn der Gefühlszustand einer Figur von der Natur gespiegelt wird, wie beispielsweise hier:

"Die starke Strömung, so schnell, so tief und so sicher, war in der Morgenstille wie ein gleichgestimmter Freund. […] Als er erwachte und aufstand, blieb er noch ein wenig stehen und sah einem Wirbel zu, der sich zwecklos drehte und drehte, bis ihn der Strom verschlang und ins Meer heraustrug."

Der Anfang des Romans erscheint zunächst aufgrund der scheinbar unzusammenhängenden Episoden etwas verwirrend; diese ergeben jedoch nach und nach ein stimmiges Gesamtbild. Bevor Letzteres geschieht, erreicht der Leser im Mittelteil eine Durststrecke. Ich fragte mich ernsthaft, worauf das alles hinführen, wohin mich die Reise führen sollte. Das Weiterlesen lohnte sich! Im letzten Teil des Romans nimmt die Geschichte viel Fahrt auf und die Verknüpfungen spitzen sich zu. Für das heutige Leseverständnis kommt die Geschichte – besonders im Mittelteil – gewiss eher schleppend voran, die jeweiligen Handlungen  wirkten auf mich jedoch nachvollziehbar und gut verständlich, wenn man bedenkt, in welcher Zeit der Roman geschrieben wurde, und zudem berücksichtigt, welche Wertvorstellungen damals vorherrschten. Darauf sollte man sich meiner Meinung nach einlassen können, wenn man diesen Roman lesen möchte.

Dickens' Schreibstil mag gewiss nicht jedermanns Sache sein: blumige Sprache, detailverliebt und etliche Schachtelsätze. Meiner Meinung nach ist/war Dickens ein wortgewandter Erzähler, der mich mit stimmungsvollen Bildern und einer dichten Atmosphäre (ja, ich wiederhole mich...) zu überzeugen weiß und mich sogartig in seine Geschichten der Demaskierung bürgerlicher Illusionen, Tugenden, übermäßigen Bürokratie und Aufdeckung sozialer Missstände zieht. Für mich ist Dickens deshalb zeitlos, da er Themen behandelte, die auch heute noch nicht an Aktualität verloren haben.

"Die Nacht sank herab, und man vernahm das Läuten von Kirchenglocken und das ferne Trommeln der Schloßwache, und immer noch saßen die Frauen und strickten. Nacht umfing sie. Eine andere Nacht sank ebenso sicher herab, in der die Kirchenglocken, die jetzt schön von manch schlankem Turm Frankreichs läuteten, zu donnernden Kanonen umgeschmolzen werden und die Trommeln eine schwache Stimme übertönen sollte – jene Nacht, allmächtig als die Stimme der Herrschaft und des Reichtums, der Freiheit und des Lebens. So viel drängte sich um die Frauen zusammen, die immer noch strickten und strickten, daß sie sich selbst um einen noch unerrichteten Bau herumdrängten, wo sie strickten und strickten und fallende Köpfe zählen sollten."

Aufgrund der angesprochenen Schwächen ist 'Eine Geschichte zweier Städte' nicht mein liebster, dafür aber gewiss ein untypischer Dickens, den ich gerne las; für Leser, die Dickens noch kennen lernen wollen, empfehle ich eher 'David Cooperfield'. Für alle anderen, die den einen oder anderen Dickens-Roman bereits verschlangen und den Themen Rache, Intrigen, Ungerechtigkeiten, dunkle Familiengeheimnisse und menschliche Abgründe nicht abgeneigt sind, möchte ich zu diesem Buch raten.

Ach ja: Mit den für Dickens typischen Verwicklungen und Zufälle wird hier übrigens nicht gespart.;)

"Das Band, das ihn mit dem Leben verknüpfte, war stark und sehr, sehr schwer zu lösen; war es allmählich und nach langen Bemühungen hier ein wenig gelockert, so zog es sich dort um so fester zusammen, und wenn er seine ganze Kraft gegen den einen Zugriff wendete und dieser nachließ, schloß sich wieder der andere."