Rezension

Ein weit gefasster Traumabegriff, interessante Familien- und Geschwister-Konstellationen

Emotionales Erbe -

Emotionales Erbe
von Galit Atlas

Bewertet mit 4 Sternen

Die New Yorker Psychoanalytikerin Galit Atlas ist als Kind von Flüchtlingen aus Syrien und dem Iran in Israel geboren, aufgewachsen und leistete dort Militärdienst. Da die Autorin und ihren Mann eine verblüffend ähnliche Familiengeschichte verbindet, liegt nahe, dass die Vererbung von Traumata durch Verfolgung, Emigration, Armut und Diskriminierung ihre Arbeit als Analytikerin prägen würde. Sie studierte in den USA und wurde durch ihre Kolumnen und Essays über Sexualität, Gender und Feminismus bekannt. Einige ihrer Patienten fanden durch diese Themen den Weg in ihre Praxis.

Die Autorin führt zunächst in das seit den 70ern populäre Thema Epigenetik ein und berichtet, dass die ersten amerikanischen Traumaforscher aus Europa emigrierte Juden waren. Sie stellt klar, dass traumatisierte Holocaust-Überlebende, Kriegsveteranen, Sklaven u. a. Gewaltopfer nachweislich einen niedrigen Kortisolwert zeigen und bei ihren Nachkommen eine erhöhte Neigung zu PTBS festgestellt wird. Der Focus des Buches richtet sich auf drei Generationen, die Enkelgeneration als Patienten in der Therapie, sowie die Geheimnisse der Eltern und Großeltern dieser „Erben“.

In einem guten Dutzend Patientengeschichten, die zumeist bereits über drei Generationen wirken, setzt sich Galit Atlas u. a. mit der Vererbung von Ängsten vor sexueller Gewalt auseinander, wie sich der Tod eines Geschwisterkinds auswirken kann (selbst wenn es vor der Geburt des Patienten verstarb), mit dem Bereich Bindung, Mutterliebe, Nicht-gesehen-Werden bei Kindern und die Auswirkung auf deren spätere Partnerschaften, Suizid, Homophobie, ungeplanten Schwangerschaften und mit weiteren Familienkonflikten. Sie begegnet bei den og. Patienten dem Schweigen der Holocaust-Überlebenden, unbewusstem Wissen der folgenden Generation um ein Familiengeheimnis, der Stellvertreter-Rolle in der Therapie für ein Trauma der Eltern, sowie Klienten, die schon als Kind glaubten, ihre Eltern schützen zu müssen.

Mit der geübten Feder der Kolumnistin vermittelt Galit Atlas die og. universellen Familien-Konflikte in liebenswürdigem, empathischem Ton. Weniger leicht zu vermitteln fand ich die Patientenschicksale, die die Analytikerin zu einem vereinnahmenden „Wir“ verleiteten, wenn sie Einwanderer therapierte, mit denen sie Jugenderlebnisse und Militärdienst in Israel verbindet. Eine klarere Trennung der Patientengeschichten von Atlas‘ persönlichem vererbtem Trauma hätte ich übersichtlicher gefunden. Die Prägung durch das in Israel herrschende Männerbild, den Yom-Kippur- und den Libanon-Krieg ist bei allen Beteiligten nicht zu verleugnen; jedoch hätte ich mir in dem Punkt mehr professionelle Distanz gewünscht.

Zahlreiche Kollegen, Patienten und Verfasser von Fachliteratur haben zu diesem Buch beigetragen. Von bekannten Namen wie Anna Freud oder Yalom reichen die von Atlas Zitierten, über Butler, Gampel, Green, Beebe, Alpert, Winnicott, Stern, Ferenczi bis Bion.

Fazit
Hier eine Empfehlung für Zielgruppen zu geben, finde ich schwierig. Die Thematik der therapierten Enkelgeneration und die Analyse ihrer Position in der jeweiligen Familie fand ich hochinteressant; sehr viel schwieriger nachzuvollziehen dagegen die Patientengeschichten der in Israel sozialisierten Personen. Wer sich für Geschwisterkonstellation und die kindliche Entwicklung generell interessiert, sollte hier zugreifen.