Rezension

Ein wundervolles Buch!

Der Fliegenfänger - Willy Russell

Der Fliegenfänger
von Willy Russell

Eine starke Geschichte.

Wow. Also ich bin begeistert. Soeben habe ich es nach 2 Wochen endlich geschafft, „Der Fliegenfänger“ von Willy Russell fertigzulesen. Dass ich so lange gebraucht habe, war allerdings in keinster Weise dem Buch geschuldet! Sondern eher der Tatsache, dass man sich für diese Geschichte Zeit nehmen muss. Mal eben 5 Seiten abends im Bett zu lesen, bevor man dann doch müde wird, erscheint einem geradezu respektlos gegenüber dieser Geschichte.

Denn es ist eine Geschichte, auf die man sich einlassen und in die man eintauchen muss, um sie emotional mitzuerleben.

Raymond Marks ist eigentlich ein ganz normaler Junge. Bis zu dem Tag, an dem er mit seinen Freunden hinunter zum Kanal geht und mit ihnen Fliegen fängt. Auf … naja… „Jungsart“. Mit der Vorhaut. Wie genau das funktioniert, wird im Buch detailreich beschrieben. Dieser Tag verändert sein Leben. Raymond ist damals elf Jahre alt.

Was dann folgt, ist geradezu eine Odyssee durch sein eigenes Leben. Er wird grauenhaft missverstanden und die Kindheit, die er erlebt, kann man wirklich als die Hölle auf Erden bezeichnen. Dabei ist seine Mutter absolut sympathisch und liebt ihren Sohn über alles. Aber auch sie kann ihn nicht davor schützen, schon als Kind als perverses Schwein abgestempelt zu werden. Als perverses Schwein, das bestimmt auch etwas mit den Verbrechen an der kleinen Paulette Patterson zu tun hat.

Sogar die geschlossene Psychiatrie bleibt Raymond nicht erspart, und dass nur, obwohl er seine Mutter und sich selbst vor einem irren Hobby- Psychologen warnen will.

Gut, ich gebe zu, die Geschichte hört sich erstmal verrückt an. Ist sie auch. Aber der Autor greift zu einem außergewöhnlichen Kunstgriff, die Raymond Marks erst seine einzigartige Stimme verleiht: er lässt ihn Briefe schreiben. Aber nicht an irgendwen, denn an wen sollte Raymond auch schreiben? Er lässt ihn an sein großes Idol schreiben -  den Sänger Morrissey, Frontmann der Band „The Smiths“, den Mann, der ihn mit seiner Musik lange Zeit seines Lebens am Leben gehalten hat.

Rahmenhandlung ist eine Reise Raymonds von seiner Heimatstadt Failsworth nach Grimsby, wo er einen Job auf dem Bau annehmen soll, um sich endlich wie ein normaler Jugendlicher in die Gesellschaft zu integrieren. Raymond trampt den ganzen Weg und sammelt so auch viele Erfahrungen und Eindrücke auf seiner Reise – zusätzlich zu seiner Lebensgeschichte, die er Morrissey schreibt.

Dadurch bekommt man solch ein klares Charakterbild von Raymond, dass man wirklich das Gefühl hat, ihn zu kennen.

Ich habe mit ihm gelitten und gefiebert, ich wollte die anderen Personen im Buch anschreien, ihm doch endlich nur richtig zuzuhören, ich wollte seiner Mutter so gerne unter die Arme greifen, um ihr die Kraft zu geben, die sie braucht, um ihn zu retten. Ich wollte seiner Oma mehr Gewicht geben und sie ein paar Jahre länger am Leben halten. Ich wollte seinen „Drecksonkel Jason“ und die „furchtbare Tante Fay“ am liebsten aus den Buchseiten schubsen und sie am Rande meines Teppichs kläglich verhungern sehen.

Das ist ein Buch, das einen nicht unberührt lassen kann. Das einen zum Nachdenken bringt und dazu bringt, mehr auf die kleinen Dinge um einen herum zu achten. Wer hat nicht schon mal eine Person grauenhaft missverstanden? Und wissen wir, was das ausgelöst hat?

Ich habe  in mehreren negativen Rezensionen gelesen, dass die Geschichte unglaubwürdig und konstruiert sei: spätestens in Zeiten des Falls Mollath oder der hessischen Steuerfahnder, die in die Psychiatrie abgeschoben wurden, weil sie an zu brisanten Themen ermittelten: Nein. Dieses Buch ist nicht unglaubwürdig. Es ist eine Reihe von unglücklichen Zufällen, ja. Aber sie zeigen deutlich: wer einmal abgestempelt ist, ist abgestempelt. Umkehren unmöglich.

Außerdem habe ich gelesen, dass es geschmacklos sei, sich über das Leid eines Kindes lustig zu machen. Deshalb sei hier nochmal gesagt: dieses Buch ist nicht lustig. Es ist todernst. Obwohl – eigentlich trifft es das nicht, denn es geht nicht um den Tod. Es geht um das Leben. Also ist es lebensernst.