Rezension

Eine faszinierende, intensive Mischung aus Horror und feministischer Dystopie – gleichzeitig abschreckend und anziehend!

Wilder Girls - Rory Power

Wilder Girls
von Rory Power

~ „Wilder Girls“ ist eine einzigartige Mischung aus Internatsroman, Horror und Dystopie, ein düsteres Buch, das einen gleichermaßen abschreckt und auf seltsame, faszinierende Weise anzieht. Glänzen kann das Buch mit seinem interessanten Setting, seinem Feminismus, seiner dichten, schaurigen Atmosphäre und seiner Spannung. Zwiegespalten lassen mich dafür der gewöhnungsbedürftige Schreibstil, die teilweise gut ausgearbeiteten, teilweise aber auch farblosen, unsympathischen Figuren und die hin und wieder mangelnde (emotionale) Tiefe zurück. Nicht überzeugen konnte mich lediglich das zu offene, unbefriedigende Ende. Insgesamt hat mich das Buch aber sehr gut unterhalten! Also – worauf wartet ihr noch? Taucht ein in diese schaurige, seltsam faszinierende Geschichte um das Mädcheninternat Raxter! Leute mit empfindlichem Magen und sensiblem Geist sollten sich diesem Buch allerdings nur mit Vorsicht nähern. Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt! ~

Inhalt

Vor eineinhalb Jahren ist eine rätselhafte Krankheit aufgetaucht. Immer wieder bricht sie erneut aus und trifft die isolierten jungen Frauen des Mädcheninternats Raxter hart. Sie verändert ihre Körper auf schaurige Weise und hat sogar schon Menschenleben gefordert. Es ist ein hartes Leben voller Ungewissheit, Hunger und Schmerz. Und dann verschwindet auch noch Hettys beste Freundin Byatt. Hetty wird alles tun, um sie wiederzufinden – auch wenn sie dafür die sichere Zone verlassen und sich dem Grauen stellen muss, das in den Wäldern lauert…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: - Es werden verschiedene Tiere (Krabbe, Reh, Luchs, Pferde etc.) getötet oder tödlich verletzt, manche aus Selbstverteidigung, manche aus Gnade, manche aber auch grundlos, was ich schwer zu ertragen fand. Diese Szenen werden meist detailreich beschrieben. Ein verwundetes Tier wird, um Munition zu sparen, leidend zurückgelassen.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, Tod von Tieren, Gewalt, Blut, Krankheit, Suizid, Erbrechen;

Warum dieses Buch?

Ich habe mich sofort in dieses wunderschöne Cover verliebt und musste das Buch einfach im Regal stehen haben. Mit jedem Satz der Buchbeschreibung wurde ich neugieriger:  Dystopie, Horrorelemente, feministisch, begeisterte Pressestimmen, Buch des Jahres. Mein Kopf war leer bis auf einen Satz: „Shut up an take my money!“ (dt. Haltet die Klappe und nehmt mein Geld!)“

Meine Meinung

Einstieg (2 Lilien)

„It’s like that, with all of us. Sick, strange, and we don’t know why. Things bursting out of us, bits missing and pieces sloughing off, and then we harden and smooth over.“ Seite 3

Die Geschichte kommt nur sehr langsam in Schwung und ist am Beginn etwas zäh, weswegen ich mir schwer damit getan habe, ins Buch zu finden. Geduldiges Dranbleiben lohnt sich hier auf jeden Fall!

Schreibstil (3,5 Lilien)

„In the woods the Tox is still wild. No girls for it to pick apart, so it got into everything else. Out there it blossoms and spreads with a kind of joy. Unbridled and vicious and free.“ Seite 50

Den Schreibstil von Rory Powers habe ich als sehr speziell und gewöhnungsbedürftig wahrgenommen. Sie schreibt zwar eigentlich gut verständlich, trotzdem war es stellenweise schwer für mich, einen Zugang zur Sprache zu finden und in einen Lesefluss zu kommen. Das wurde immerhin mit jeder gelesenen Seite besser. In seinen besten Momenten ist der Schreibstil intensiv, atemlos spannend und unheimlich, in seinen schwächsten ist er sperrig und (durch die wenigen Dialoge) nicht wirklich mitreißend.

Englisch-Schwierigkeitslevel: mittel bis schwer. Dieses Buch ist für Leute, die gerade erst damit angefangen haben, Bücher auf Englisch zu lesen, nicht empfehlenswert. Dafür sind die Satzstrukturen zu sperrig, der Schreibstil zu wenig zugänglich, die Dialoge zu spärlich und schwierigen, unbekannten Adjektive zu zahlreich. AnfängerInnen sollten hier auf jeden Fall auf andere Geschichten ausweichen (wenn ihr Buchtipps haben möchtet, schreibt mich gerne an!).

Idee, Ausführung & Themen (4 Lilien)

„Barely five years past the oldest of us, [Welch is] the youngest of the teachers. […] Now she counts us every morning to make sure nobody’s died in the night.“ Seite 3

„Wilder Girls“ ist eine unvergleichliche Mischung aus Internatsroman, Horror und Dystopie, es ist ein düsteres Buch, das einen gleichermaßen abschreckt und auf seltsame, faszinierende Weise anzieht. Rory Powers Schilderungen sind dabei nicht nur unheimlich, sondern oft auch ekelhaft. Leute übergeben sich und spucken schwarzen Schleim, sie haben eitrige Wunden, mutierte Rehe mit entstellten Gesichtern werden plötzlich zur Gefahr, menschliche Knochen knacken im Gebiss eines Bärs, als dieser jemanden bei lebendigem Leibe auffrisst. „Wilder Girls“ ist also definitiv nichts für schwache Nerven und empfindliche Mägen.

Großartig finde ich an diesem Buch, dass es tatsächlich sehr feministisch ist. Durch unsere patriarchalische Literaturprägung ist es für uns leider normal, Frauen oft nur in unwichtigen Nebenrollen zu erleben. Hier wird dieses Ungleichgewicht einmal umgedreht – und das fühlt sich gleichzeitig ungewohnt, aber auch erfrischend und schön an. Die Schule wird von Frauen geleitet, Mädchen kämpfen um Nahrung und um ihr Überleben und werden im Schusswaffengebrauch unterrichtet – und auch die Bösen sind hier weiblich. Da bleibt kein Platz für Geschlechterstereotypen und Rollenklischees, was ich einfach nur wunderbar finde!

Thematisch stehen das nackte Überleben, Freundschaft, Liebe (auch LGBT+), Erwachsenwerden, Angst, Krankheit, Ungewissheit und Hoffnung im Mittelpunkt. Auch die Suche nach der Wahrheit nimmt viel Raum ein. Nur nach und nach erfahren wir (wie die Hauptfiguren), was es mit der Krankheit auf sich hat. Immer wieder kommt es auch zu tragischen Vorkommnissen. Und die ganze Zeit über schwingt die Frage mit: Wem kann ich überhaupt trauen? Wer meint es gut mit mir?

Obwohl die Autorin das Rad nicht neu erfindet, hat sie aus bekannten Elementen ihre ganz eigene Geschichte gewoben, die mich insgesamt auch wirklich gut unterhalten hat. Trotzdem war noch Luft nach oben: In manchen Momenten hätte ich mir mehr (emotionale) Tiefe gewünscht und das Ende war für meinen Geschmack leider zu offen und daher unbefriedigend. „Wilder Girls“ hat jedoch etwas ganz Einzigartiges an sich, das mir sehr gut gefallen hat. Ich möchte daher auf jeden Fall noch mehr von der Autorin lesen!

ProtagonistInnen & Figuren (3-4 Lilien & 3,5 Lilien)

Die Figuren sind meiner Meinung nach leider nicht die größte Stärke des Buches. Hetty mochte ich als Protagonistin, auch wenn ich ihr Verhalten nicht immer nachvollziehen konnte und auch wenn sie manchmal geradezu unverzeihlich dumme Fehler begeht. Byatt hingegen wurde mir mit jedem Kapitel unsympathischer. Eine Entwicklung machen beide Figuren nur bedingt durch.

Insgesamt hätten meiner Meinung nach viele (nicht alle!) Figuren noch etwas mehr Farbe vertragen können, sie bleiben nämlich insgesamt eher blass und austauschbar. Es fiel mir teilweise schwer, zu ihnen eine Bindung aufzubauen, was auch daran lag, dass sie oft sehr egoistisch handeln, was ich nur schwer nachvollziehen konnte. Mit zugänglicheren, unvergesslichen Charakteren hätte dieses Buch sicher ein Lieblingsbuch werden können.

Spannung (4 Lilien) & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

„‘Let’s go,‘ Reese whispers. ‚They look harmless.‘ […]
We’re not that lucky. One of the deer takes a hesitant step toward us, and as it opens its mouth, I gasp. Incisors long and gleaming wet, sharp like a coyote’s.“ Seite 191

Wenn dann die Geschichte erst einmal in Schwung gekommen ist, ist sie auch ziemlich spannend – allerdings nicht durchgehend. Am Erzähltempo und Spannungsaufbau hätte man sicher noch arbeiten können. In manchen Momenten konnte ich das Buch kaum zur Seite legen, in anderen musste ich mich dazu motivieren, weiterzulesen. Insgesamt bin ich aber zufrieden.

Großartig fand ich hingegen die dichte, bedrohliche und schaurige Atmosphäre und die intensive Endzeitstimmung im Buch. Die Autorin weiß ihr Setting (eine verlassene, isolierte Insel mit Internat) zu nutzen: Der düstere Wald, die unkontrolliert wuchernden Bäume, die nächtlichen Geräusche, das traurig leere Schulgebäude – das alles erweckt Rory Power gekonnt zum Leben. Und auch diese besondere Art der Existenz zwischen Angst und Hunger, harter Arbeit und Schmerz, Zusammenhalt und Feindschaft, Ordnung und Chaos, aber auch Ungewissheit und Hoffnung wird sehr intensiv und überzeugend beschrieben.

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ---

Nach dem, was ich im inhaltlichen Teil dieser Rezension schon geschrieben habe, ist es wenig überraschend, dass mich eine feministische Analyse hier begeistert zurücklässt. Dieses Mal finde ich kein Haar in der Suppe, sondern kann nur sagen: Weiter so! Hoffentlich bleibt die Autorin ihrer feministischen Linie treu!  

Mein Fazit

„Wilder Girls“ ist eine einzigartige Mischung aus Internatsroman, Horror und Dystopie, ein düsteres Buch, das einen gleichermaßen abschreckt und auf seltsame, faszinierende Weise anzieht. Glänzen kann das Buch mit seinem interessanten Setting, seinem Feminismus, seiner dichten, schaurigen Atmosphäre und seiner Spannung. Zwiegespalten lassen mich dafür der gewöhnungsbedürftige Schreibstil, die teilweise gut ausgearbeiteten, teilweise aber auch farblosen, unsympathischen Figuren und die hin und wieder mangelnde (emotionale) Tiefe zurück. Nicht überzeugen konnte mich lediglich das zu offene, unbefriedigende Ende. Insgesamt hat mich das Buch aber sehr gut unterhalten! Also – worauf wartet ihr noch? Taucht ein in diese schaurige, seltsam faszinierende Geschichte um das Mädcheninternat Raxter! Leute mit empfindlichem Magen und sensiblem Geist sollten sich diesem Buch allerdings nur mit Vorsicht nähern. Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Lilien
Umsetzung: 4 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 2 Lilien
Ende / Auflösung: 2-3 Lilien 
Schreibstil: 3,5 Lilien
ProtagonistInnen: 3-4 Lilien
Figuren: 3,5 Lilien
Spannung: 4 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 4 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥
Einzigartigkeit / Chance, dass ich das Buch nie vergessen werde: hoch

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir vier Lilien!