Rezension

Eine Geschichte, die unter die Haut geht

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte (Hörbestseller) - Rachel Joyce

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte (Hörbestseller)
von Rachel Joyce

Bewertet mit 4.5 Sternen

Nachdem ich Feuer und Flamme für Rachel Joyces Debütroman "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" war, musste ihr neuer Roman einfach den Weg in mein Bücherregal finden. Allerdings waren meine Erwartungen von Anfang an daher auch ziemlich hoch. 

Byron versteht die Welt nicht mehr! Wie kann man der Zeit einfach so zwei Sekunden hinzufügen? Innerhalb von zwei Sekunden kann so viel passieren! Seine Ängste sollten nicht unbegründet bleiben. An einem stressigen Morgen begeht seine Mutter einen schwerwiegenden Fehler: Sie fährt ein Mädchen an...

In einer anderen Zeit am selben Ort ist Jim seinen täglichen Zwängen ausgesetzt. Seinen Wohnwagen kann er nicht betreten, wann er möchte. Erst müssen wichtige Rituale durchgeführt werden. Diese Rituale bestimmen nicht nur sein Privat- sondern auch sein Berufsleben. Doch als er glaubt verloren zu sein, macht er eine wunderbare Entdeckung...

Als ich die ersten Minuten von "Das Jahr das zwei Sekunden brauchte", hörte, dachte ich zuerst mein MP3 Player sei kaputt. Wanja Mues liest die Geschichte rund um Byron und Jim sehr leise :-). 
Wunderbar versetzt er sich in die Rolle des stotternden Jims hinein. Ich sah den unsicheren Charakter, der sich im Grunde nur wünscht, normal zu sein, förmlich vor mir. Allerdings konnte ich die meiste Zeit mit Mues Interpretation des Romanes nicht viel anfangen. Ich ertappte mich dabei, wie ich abschweifte, obwohl die Geschcihte alles andere als langweilig war. 

Inhaltlich versteht sich Rachel Joyce wieder wunderbar darauf auf Missstände innerhalb der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Was passiert wenn Arm und Reich aufeinander treffen? Wie lässt sich eine Familie von einem Oberhaupt, dass im Grunde selten körperlich anwesend ist, beherrschen?
Die Handlungsstränge rund um den 11 jährigen Byron und Jim sind sehr schön aufgebaut und werden gut miteinander verknüpft. Lange saß ich da und habe mir überlegt, was diese beiden Charaktere wohl miteinander zu tun haben. Betritt Byron eines Tages zufällig das Cafe in dem Jim arbeitet? Als die Handlungsstränge aufgelöst werden, hat sich bei mir ein "Aha!" Effekt eingestellt. Erst auf den letzten Tracks wird klar, wie nah sich beide Charaktere wirklich sind.

Rachel Joyce versteht sich sehr schön darauf Dinge durch das Erleben zu beschreiben. Es wird schnell klar, dass Jim unter einer Zwangsstörung leidet, allerdings beschreibt sie diese Störung so gut, dass sie das Wort "Zwang" anfangs gar nicht benötigt.
Gerade der Schreibstil trägt zur Tiefe der Geschichte bei, weil deutlich wird, wie viel Joyce von einem Charakter wahrnimmt.

Die Tragik der Geschichte, dass zwei Sekunden, zwei Leben so gravierend verändern können, regt mich hier sehr zum Nachdenken an.

Wer "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" gelesen und geliebt hat, wird "Das Jahr das zwei Sekunden brauchte" verschlingen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Joyces zweiter Roman mich genauso überzeugt.