Rezension

Eine Inszenierung, wie sie das Leben geschrieben haben könnte.

Sie sagt. Er sagt. -

Sie sagt. Er sagt.
von Ferdinand von Schirach

Bewertet mit 5 Sternen

Zur Einführung werde ich in einen Gerichtssaal an einem Landgericht versetzt. Der Autor stellt mir die Vorsitzende Richterin vor, die Staatsanwaltschaft, Verteidiger, den Referendar und die Schöffen, die Nebenklägerin wird sich verspäten. 

Der Prozess beginnt mit der Gerichtsmedizinerin Laux-Frohnau. Sie hatte die Klägerin Katharina Schlüter am 17. August, auf deren Wunsch hin, untersucht. Frau Schlüter gab an drei Tage zuvor vergewaltigt worden zu sein, sich jedoch gleich danach ausgiebig geduscht und sogar eine Scheidenspülung vorgenommen zu haben. 

Im weiteren Verlauf des Verfahrens erfahre ich, dass die Nebenklägerin und der Angeklagte, Christian Thiede, seit Jahren ein Verhältnis hatten. Katharina Schlüter wirft Christian Thiede vor, sie am letzten Tag ihrer Übereinkunft vergewaltigt zu haben. Tatsächlich seien sie zu dem Zeitpunkt schon getrennt gewesen und hätten sich zufällig auf der Straße getroffen. Sie ging mit ihm in seine Wohnung, folgte ihm ins Schlafzimmer, ließ sich von ihm ausziehen, auf das Bett und ihn auf sich legen. Nachdem er begann sie zu penetrieren, kam ihr der Gedanke, dass das was sie da taten falsch war. Sie bat ihn aufzuhören, aber er machte weiter.

Als die Psychologische Sachverständige Pia Altstedt aufgerufen wird, soll sie Licht ins Dunkel bringen und das macht sie. Kenntnisreich und informativ erklärt sie dem Gericht, dass es im Verhalten von Vergewaltigungsopfern keine Normen gibt. Manche wären gefasst und unterkühlt, andere dagegen kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Sie liefert etliche Beispiele, die auch historisch bedingt sind, warum den weiblichen Opfern seltener geglaubt wird als den Tätern und welche unserer Vorurteile dazu führten.

Fazit: Eine Inszenierung, wie sie das Leben geschrieben haben könnte. Die Verhandlung erinnert mich an den “Kachelmann Prozess”. Ebenso an die #metoo Debatte, die von der kontroversen Bewegung #notmee malträtiert wurde. Über den gesamten Verhandlungsverlauf bringt Von Schirach immer wieder gekonnt neue Indizien und Zeugen ins Spiel, die mich mal glauben lassen, die Nebenklägerin habe recht, dann wieder kommen mir Zweifel, weil sie zuvor die Beziehung als innig und verständnisvoll geschildert hat. Warum also sollte er das tun? Wollte sie ihm schaden? Aber es muss ihr klar gewesen sein, dass sie sich mit der Veröffentlichung selbst schadet. War sie rachsüchtig, weil er die Beziehung beendet hat? Warum setzt sie überhaupt alles aufs Spiel, sie hat doch seit Jahren mit ihm geschlafen? Fragen über Fragen und eine überraschende Auseinandersetzung mit mir und meinen eigenen Glaubenssätzen. Lesenswert!