Rezension

Eine lebenslange Reise, die an Bord der Oronsay beginnt ... - HÖRBUCH

Katzentisch - Michael Ondaatje

Katzentisch
von Michael Ondaatje

Bewertet mit 5 Sternen

Michael reiste allein. Seine Tante Flavia und seine fast erwachsene Cousine Emily gingen als Passagiere der ersten Klasse zwar ebenfalls an Bord der Oronsay, um von Colombo nach London zu reisen. Michael traf sie auf der dreiwöchigen Schiffsreise jedoch nur selten; seine fensterlose Kabine lag auf einem tieferen Deck. Als Michaels Mutter nach dem Scheitern ihrer Ehe nach England zurückkehrte, übernahm ihr Bruder in Colombo die Vormundschaft über den jetzt Elfjährigen. Im Leben des Einzelkindes ändert sich dadurch kaum etwas. Die wichtigsten Bezugspersonen in Michaels Leben waren der Diener und der Koch seines Onkels. Später wird Michael sich erinnern, dass die Beziehung zu diesen beiden Männern ihn lehrte, die Welt infrage zu stellen. Die Reise nach England im Jahr 1954 wird die erste und einzige Schiffsreise in Michaels Leben bleiben. Er wunderte sich, wie unbedeutend dieses Ereignis für seine Familie und die Erwachsenen an Bord zu sein schien. Zu den Mahlzeiten werden Alleinreisende, außer Michael die Jungen Cassius und Ramadhin, eine Frau und einige Männer, an den Katzentisch gesetzt, den vom Tisch des Kapitäns am weitesten entfernten Platz im Speisesaal. Mit den Tischgenossen, dem Botaniker Larry Daniels, einem Schiffsabwracker, einem behinderten Schneider und der geheimnisvollen Miss Lasquetti entwickeln sich faszinierende Gespräche. Die Schiffsreise lässt Michael außer der Freiheit von gewohnten Zwängen eine Vertrautheit zu seinen jugendlichen Reisegefährten erleben, wie er sie als Erwachsener nicht wieder erfahren wird. Mit dem Spitznamen "Mynah", Beo, für Michael drückt Ramadhin ironisch ihre besondere Beziehung aus. Anders als ein Beo ist Michael sehr zurückhaltend. Als Internatsschüler hat er gelernt, viel für sich zu behalten. Das Schiff präsentiert sich den Jungen als schwimmender Abenteuerspielplatz, auf dem sie jeden Tag mindestens ein Verbot zu übertreten versuchen. Gerüchte um den streng bewachten Gefangenen an Bord fachen die Fantasie der jungen Reisenden an und lassen die Reiseerlebnisse beinahe wie einen Krimi wirken.

Schiffsreisen müssen damals willkommene Gelegenheiten gewesen sein, um auf Freiersfüßen zu wandeln. Nur dem Chronisten Michael, der in seiner Zeit an Bord ein Schulheft mit den gehörten Gesprächsfetzen füllt, ist die Bedeutung der Satzfragmente selbst noch nicht klar. Die kindliche Perspektive des Reisenden, dessen Leben noch vor ihm liegt, wechselt im Roman zu der des erwachsenen Erzählers, der aus der Distanz, auf Wunsch seiner Kinder, von seiner Jugend erzählt. Mit dem Schreiben will der Erzähler die Gefühle von damals bewahren. Ein Treffen in der Gegenwart zwischen Michael und Cousine Emily in Kanada, wo beide inzwischen leben, lässt letzte Erinnerungsstücke an ihren Platz im Gesamtbild rutschen. Die Verbindungen zwischen einigen Reisenden erhalten im Rückblick auch für Michael nun eine völlig andere Bedeutung. Michael nimmt inzwischen auch andere Gefahren wahr als die, sich bei Abenteuern an Bord körperlich zu verletzen. Während Michael erst jetzt seine Erinnerungen ordnet, ist der erwachsene Leser der jungen Hauptperson stets ein Stück voraus, interpretiert die Ereignisse an Bord anders als ein Kind.

Während seines Studiums in London pflegt Michael zu Ramadhin und dessen Schwester eine sehr enge Freundschaft und geht sogar ein kurze Ehe mit Massi ein, um weiter zur Familie zu gehören. Auf den drei Studenten lastet im Kokon der Exil-Ceylonesen der Erfolgsdruck und das Gewicht familiärer Traditionen. Nur Cassius wird Michael erst als Dreißigjähriger anlässlich Cassius Kunstausstellung wiedersehen, das Thema der Ausstellung: ihre Fahrt auf der Oronsay.

"Katzentisch", sicher auch symbolisch für den Katzentisch des Lebens gemeint, schildert nicht nur sehr spannend die Abenteuer dreier Jugendlicher an Bord eines Schiffes. Durch den häufigen Wechsel der Erzählperspektive wird Michaels letzte Atempause, bevor der Ernst des Lebens beginnt, mit dem Charme einer Pubertätsgeschichte erzählt. Das nahende Ende der Kindheit ist den Lesern bewusst, aber nicht den Jugendlichen selbst. Die Entwicklung von Ondaatjes Reisendem Michael, in Distanz zu anderen Menschen aufgewachsen und die Nähe zu anderen spürbar zurückhaltend wagend, habe ich mit diesem Hörbuch fasziniert verfolgen konnte. Mit Michaels Tischgenossen, alle begnadete Geschichtenerzähler, schuf der Autor frühe, hinreißend exzentrische Vorgänger des Animateurs für Schiffspassagiere.

Der Erzähler Johannes Steck spricht mit sehr wandlungsfähiger Stimme die Männer- Frauen- und Kinderrollen des Romans. Er mimt mit rauchigem Timbre den auf den Weltmeeren erfahrenen Pianisten, lächelt charmant wie Miss Lasquetti, erinnert sich voller Nostalgie an Michaels Kindheit und vollzieht das Erwachsenwerden der Hauptfigur nach, indem seine Stimme parallel zu Michaels Entwicklung entschiedener wird.

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Sprecher: Johannes Steck
Ungekürzte Lesung
485 Minuten
7 CDs im Digifile (Kartontasche mit Einsteckschlitzen)
Originaltitel: The Cat's Table
Übersetzerin: Melanie Waltz