Rezension

Einmal anders - Charles Dickens als Detektiv

Grave Expectations -

Grave Expectations
von Heather Redmond

Bewertet mit 1.5 Sternen

Sich zäh dahinziehender Beinahe-Kriminalroman, in dem Charles Dickens sich als Amateurdetektiv versucht. Uninteressant und langweilig.

Historische Figuren in Romanhandlungen einzubauen, sie gar zu ihren Protagonisten zu machen, wie hier im zweiten Band der „A Dickens of Crime Book“ - Serie, „Die Morde von Chelsea“ (im englischen Original „Grave Expectations“), ist sicher etwas, das viele Leser anspricht. Doch Autoren, die so etwas tun, gehen immer ein Risiko ein. Sind die jeweiligen historischen Figuren authentisch genug gezeichnet – für all diejenigen, die es gerne akkurat haben? Gelingt es dem Verfasser bzw. der Verfasserin, die entsprechende Epoche so einzufangen, dass sie sowohl stimmig als auch visualisierbar ist? Und weiterhin – passen die einstmals real Existierenden in die Romanhandlung, in der man sie agieren lässt?

Auf den hier zu besprechenden Krimi oder auch Cosy Crime habe ich mich in erster Linie eingelassen, weil der berühmte englische Schriftsteller Charles Dickens, von dessen Werken vier, darunter der stark autobiographische Kindheits- und Jugendroman „David Copperfield“, zu den bedeutendsten britischen Romanen zählen, im Mittelpunkt steht, und weil ich neugierig war, inwieweit die Vorstellung der Autorin, die sicherlich gründliche Recherchen angestellt hat, der vor-viktorianischen Zeit mit der meinen übereinstimmt, und ob ich „meinen“ Dickens in dem ihren wiederfinde. Gespannt war ich auch auf die Handlung selbst, die sich im Klappentext recht vielversprechend liest.

Wir begegnen dem jungen, längst noch nicht als Schriftsteller etablierten Charles Dickens im Sommer des Jahres 1835, frisch verlobt mit seiner künftigen Ehefrau Kate Hogarth, der Tochter des Herausgebers des „Chronicle“, für den Dickens arbeitet. Die beiden, Catherine deutlich stärker als Charles, so bekommt man den Eindruck, wünschen sich eine baldige Ehe, von der noch nicht zu ahnen ist, dass sie eine äußerst stürmische, unbefriedigende werden würde. Doch dafür muss Dickens erst noch eine solide finanzielle Basis schaffen, was ihm, obschon er sehr fleißig, bemüht und umtriebig ist, sowohl als Parlamentsstenograph, als auch als Journalist und gelegentlich ebenso als Liedtexter für seinen Freund Breese, nicht leicht fällt. Charles unterstützt nämlich noch seine Familie, die dank des Vaters unglücklichem Umgang mit Geld ständig verschuldet ist und über ihre Verhältnisse lebt, und hilft überhaupt jedem, der in Not ist, sei es, weil ihnen die gnadenlosen Mieteintreiber im Nacken sitzen, sei es, weil der Schmied aus der Nachbarschaft unglückseligerweise wegen des Verdachts auf Mord im Gefängnis gelandet ist, oder weil er sich gemeinsam mit einer Gruppe hilfsbereiter Freunde verantwortlich fühlt für ein paar junge Mudlarker, Kinder, die am Fluss leben und im Uferschlamm nach Schätzen graben oder doch wenigstens nach hier gelandeten Gegenständen, die sie verkaufen können. Das rechte Verständnis bringt die Verlobte nicht für Charles nimmermüde Aktivitäten und seine wegen seiner Hilfsbereitschaft finanziell nicht rosige Lage auf. Sie, deutlich verwöhnt, will Spaß haben – und den findet sie beim Lösen von Rätseln, die Charles herbeizuschaffen hat, gar echten Kriminalfällen, über die die Autorin ihren Zukünftigen stolpern lässt, um ihn dann als Amateurdetektiv agieren zu lassen.

In „Die Morde von Chelsea“ - irreführend, denn es geschieht nur ein einziger Mord! - findet Charles seine altjüngferliche Nachbarin, Miss Haverstock, ermordet in ihrer Wohnung. Für die Polizei ist der Fall klar, als ein Paar Handschellen in der Schmiede nebenan gefunden wird – und verhaftet stehenden Fußes den Schmied, obwohl dieser seine Unschuld beteuert und Charles ganz andere Verdächtige im Sinn hat, deren Verstrickung in den Mordfall er nun beweisen möchte. Gleichzeitig mit dem Auffinden der Leiche kommt noch ein weiteres Rätsel ins Spiel, denn unter Charles Tür wird eine alte Zeitschrift mit einem Bericht durchgeschoben, der von dem Mädchen Goldy erzählt, das etwa 50 Jahre zuvor von ihren Spielkameraden in ein Fass gesteckt und in die Themse geworfen wurde. Gibt es etwa eine Verbindung zwischen dem Mord an der alten Dame und dem schändlichen Streich einiger grausamer Kinder?

Charles macht sich daran, Licht in beide Fälle zu bringen, was nicht leicht ist neben seinen vielen beruflichen und privaten Verpflichtungen. Und jetzt nimmt der ungemein zähe und langatmige Roman seinen Verlauf, tritt auf der Stelle und will einfach nicht enden! Viel erfahren die Leser über das London der Dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, viel über den Alltag der privilegierten und weniger privilegierten Bewohner – für meinen Geschmack freilich allzu detailverliebt und mit viel zu vielen sich wiederholenden Beschreibungen. Fängt man so Atmosphäre ein? Mit solch minutiösen Ausführungen? Wozu werden zum Beispiel immer wieder die seidenen Bänder erwähnt, mit denen sich das Fräulein Kate so gerne schmückt? Wozu wird jede Bewegung der Protagonisten so ausführlich kommentiert, verweilt man so lange bei deren Nahrungsaufnahme? Und dazwischen eilt die Charles Dickens Version durch die Handlung, hyperaktiv anmutend, nimmermüde seinen Aufgaben nachzukommen versuchend, in seinen Ermittlungen während eines Großteils des Romans auf der Stelle tretend! Das ist anstrengend zu lesen – und langweilig! Die Kriminalhandlung bewegt sich nicht vorwärts und tritt bis auf die letzten etwa dreißig Seiten in den Hintergrund des Nicht-Geschehens. Zugunsten des angestrengten Versuchs, das beginnende viktorianische London auferstehen, das Leben des jungen Dickens möglichst authentisch wirken zu lassen.

Doch wie das war damals, wird viel besser vermittelt in den sozialkritischen, sehr anschaulichen Romanen des großen Sohnes Großbritanniens selbst! Dazu braucht man nicht die Vermittlung einer Autorin. Von den vielen Figuren, die die Geschichte bevölkern, kann ich auch nur einzig dem Roman-Dickens etwas abgewinnen, einzig er ist lebendig und auch vielschichtig. So könnte er tatsächlich gewesen sein in der Zeit, als er so voller Elan eine sichere Existenz aufbauen wollte und gleichzeitig bemüht war, diejenigen zu unterstützen, die das aus eigener Kraft nicht konnten. Die Gutmütigkeit, mit der ihn die Verfasserin ausgestattet hat, steht ihm darüber hinaus gut zu Gesicht, wiewohl ich meine Zweifel habe, ob sie denn eine seiner hervorstechenden Eigenschaften war, Eher nicht, wenn man sich ein wenig in seiner Lebensgeschichte auskennt. Aber ein anschaulich porträtierter Dickens reicht nicht aus, um den Roman interessant und spannend zu machen, woran auch die nicht zu erwartenden Enthüllungen, gewaltig an den Haaren herbeigezogen übrigens, nichts ändern. Ich habe weitaus Besseres gelesen, das in der Zeit, in der der Roman angesiedelt ist, spielt – und verspüre keinerlei Verlangen, dem Detektiv Dickens in der Reihe „A Dickens of a Crime wiederzubegegnen. Dafür habe ich umso größere Lust, den Original-Dickens in seinen ureigenen Werken neu zu entdecken!