Rezension

Eistote, eine kindliche Ermittlerin und Blut an der Kirchentür...

Die Eistoten - Christian Buder

Die Eistoten
von Christian Buder

Bewertet mit 4 Sternen

Pro:
Die Verbindung von Thriller und philosophischem Gedankengut ist originell - mir fällt spontan nur ein einziges Beispiel ein, bei dem ein Autor ebenfalls Belletristik und Philosophie verbunden hat: "Sophies Welt" von Jostein Gaarder. Aber "Die Eistoten" ist etwas völlig Anderes, Eigenes. Hier liegt die Betonung deutlich mehr auf der Handlung, losgelöst vom philosophischen Aspekt.

Auch unsere Heldin Alice ist außergewöhnlich: sie ist erst 11 Jahre alt, weiß aber wahrscheinlich schon mehr über die Psychologie von Serienkillern als die Polizei in ihrem kleinen Dorf. Überhaupt ist sie vielleicht der intelligenteste Mensch dort - sie ist hochbegabt, mit messerscharfem Verstand. Oft macht sie das altklug, gelegentlich sogar arrogant und herablassend, aber im Großen und Ganzen fand ich sie dennoch sehr sympathisch. (Manchmal hat sie mich an Sherlock Holmes erinnert, der in seiner Frustration über die Begriffsstutzigkeit seiner Mitmenschen auch des Öfteren arrogant erschien.) Sie hat ständig damit zu kämpfen, dass sie nicht ernstgenommen wird, weil sie "nur" ein Kind ist. In vielen Szenen konnte ich ihren ohnmächtigen Frust richtig spüren. Sie ist ein vielschichtiger Charakter mit guten und schlechten Eigenschaften, aber was immer sie auch tut, sie hat das Herz am rechten Fleck und ich habe mit ihr mitgefiebert.

Ihr bester Freund Tom ist ebenfalls kein typisches Kind. So wie Alice alles über Philosophie und Verbrechen weiß, kennt er sich bestens mit Computern aus - und kann sich mühelos in das ein oder andere Netzwerk einhacken. Ängstlich und doch irgendwie mutig, clever aber naiv... Ich mochte Tom richtig gern.

Alices Vater ist mit seiner intelligenten Tochter überfordert und versucht sie dazu zu drängen, sich mehr wie ein "normales" Kind zu verhalten - ihr Großvater dagegen fördert ihre Interessen, was zu Spannungen innerhalb der Familie führt. Ihre oberflächliche Schwester Amalia hat für Alice nur Verachtung und Hohn übrig - und vielleicht ein bisschen Neid? Und durch Alles zieht sich der Schmerz über den Verlust der Mutter...

Die Menschen in ihrem kleinen Dorf sind eine Ansammlung schrulliger Charaktere. Sie misstrauen Fremden, stecken vor unangenehmen Dingen lieber den Kopf in den Sand und leben ihr Leben Tag für Tag, Jahr für Jahr im immer gleichen Trott. Nach und nach lernt man viele von ihnen näher kennen: den stets betrunkenen Pfarrer, Alices gebildeten Lehrer Lehmko, dessen ebenfalls hochbegabten Sohn oder die alte Adelheid Grundiger, die seit dem Zweiten Weltkrieg treu und beharrlich auf die Rückkehr ihres Alois wartet. Schnell beginnt man sich zu fragen: kann in diesem verschlafenen Kaff voller engstirniger Menschen, die sich an ihre Traditionen klammern, wirklich ein Serienkiller leben?

Den Schreibstil fand ich großartig: voller kraftvoller, ungewöhnlicher Bilder, durch die man die Szenen quasi vor sich sehen kann. Poesie und Spannung gehen hier Hand in Hand.

Das Buch schmeißt einen direkt am Anfang kopfüber in eine beklemmende, spannungsgeladene Szene: ein kleines Mädchen flüchtet durch den Wald. Vor wem? Das weiß der Leser nicht, aber es ist klar: ihr Verfolger hat Grauenvolles im Sinn.

Ich fand das Buch von der ersten bis zur letzten Seite spannend, nur war es nicht immer die gleiche Art von Spannung. Mal schlägt das Herz schneller und man kann an den Nägeln knabbernd gar nicht schnell genug weiter blättern... Mal ist es eher ein unterschwelliges Gefühl von Unheil und Bedrohung, das hinter der dörflichen Fassade zu lauern scheint. Nach etwa Dreiviertel der Handlung hatte ich den Mörder leider bereits im Verdacht, aber es blieb für mich dennoch spannend, mitzuverfolgen, wie Alice ihm nach und nach auf die Spur kam.

Das Buch kommt mit sehr wenig Gewalt aus. Von Thrillern bin ich durchaus auch Szenen gewohnt, in denen man sich ekelt oder sich von dem ganzen Blut und Gedärm abgestoßen fühlt, aber "Die Eistoten" beschreibt nur selten bis in die blutrünstigen Details. Ich habe es nicht vermisst!

Kontra:
Der Klappentext erweckt die Erwartung, dass der tote Philosoph Wittgenstein eine tragende Rolle in dem Buch spielen wird, als ähnlich wichtiger Protagonist wie Alice. Tatsächlich ist er aber eher eine Randerscheinung, wobei man nie so genau wissen kann, ob Alice ihn sich nicht vielleicht einfach nur einbildet. Auch die Idee der "Spektren", dunkler Ideen, die eine unheilvolle Macht besitzen, wird nur halbherzig angesprochen. Ich hätte mir gewünscht, dass der Philosophie viel mehr Raum eingeräumt wird. So, wie es ist, geht dieser Aspekt für mich etwas unter und erscheint dadurch fast überflüssig.

Manche Informationen werden mehrmals wiederholt, als könne der Leser sie schon vergessen haben. Mir kam öfter der Gedanke: "Ja, aber das wissen wir doch schon lange!"

Das Ende hat mich ziemlich enttäuscht. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber es kam mir überstürzt, konstruiert und unglaubwürdig vor - was ich sehr schade fand, denn den Rest des Buches fand ich (meist) schlüssig und plausibel.

Zusammenfassung:
Trotz des enttäuschenden Endes bin ich froh, das Buch gelesen zu haben. Es ist schön geschrieben, durchweg spannend und unterhaltsam, und einfach mal etwas ganz Anderes. Ich denke, ich werde auch den nächsten Band lesen, in der Hoffnung, dass dann die Philosophie eine größere Rolle spielen wird.