Rezension

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Etwas ist immer

Davonkommen -

Davonkommen
von Fabio Andina

Ein Mann und Vater eines vier Jahre alten Sohns soll geschieden werden und stürzt so richtig ab. Ein Haus in den Bergen wird zu seinem Refugium. Kompromisslos ehrlich. Für wen: Bestimmt nicht nur für Männer, die mit ihrer Ex-Frau schlechte Erfahrungen gemacht haben. Dafür ist der Roman einfach zu gut geschrieben.

Fabio Andinas Roman Tage mit Felice ist eines jener Bücher, die man nicht so schnell vergisst. Schon deshalb konnte ich kaum erwarten, Andinas nächsten Roman Davonkommen zu lesen. Auch diese Geschichte spielt wieder im Tessin, man kann sich vorstellen im selben Dorf im Bleniotal, das wir schon aus Tage mit Felice kennen. 

Protagonist ist diesmal ein junger Mann, der von seiner Gattin vor die Tür gesetzt wird. Damit nicht genug: Mit allen möglichen Tricks versucht sie, den gemeinsamen Sohn von seinem Vater fernzuhalten. Die daraus entstehenden Grabenkämpfe, unbefriedigende Gelegenheitsjobs, Schulden und die Notwendigkeit, eine Hütte in einem Bergdorf zu beziehen, machen dem «Helden» dieser Geschichte das Leben schwer. Er driftet immer mehr in eine Tabletten- und Alkoholsucht ab. Wäre da nicht der Sohn, mit dem er jedes zweite Wochenende im Bergdorfverbringt, wer weiss, ob der verzweifelte Mann wieder auf die Beine kommen würde. Das Ende des Romans lässt hoffen. 

Der Ich-Erzähler deliriert. Oder er ist wütend. Vor allem auf seine Frau, die sich von ihm scheiden lassen will, bereits einen Neuen hat und ihm den Kontakt zu seinem Sohn verweigert. Er erträgt seine Tage nur noch im Dämmerzustand, hetzt durch eine ihm fremd und feindlich gesinnte Welt. Doch dann landet er bei Dr. Bianchi, der ihm klipp und klar sagt, er müsse dem Leben zulächeln, oder er werde aus dem Fenster des fünften Stocks springen. 

Das mit dem Lächeln gelingt vorerst nicht, denn «etwas ist immer». Die nervenden Menschen, der alte Volvo mit seinen Macken, die Musik in seiner Lieblingsbar, die zickende Ex, Geldmangel, der lange Weg von seinem Bergdorf in die Stadt. Manchmal weiss unser Protogonist auch nicht mehr, was er in der vergangenen Nacht getan hat. Dann steht meist ein gestohlener Rhododendron auf seiner Gartenmauer. 

Man könnte diesen Roman trotz gelegentlicher Situationskomik als blossen Selbstmitleidsmonolog und Männer-Gejammere über die bösen Frauen lesen. Das würde dem Text aber nicht gerecht werden. Vielmehr ist es eine Geschichte, die nach und nach vom Lärm in die Stille führt. Denn was unser Held zu betäuben versucht, ist das Dröhnen der Verzweiflung. Verzweiflung vor allem über das misslungene Eheleben, das harmonisch begann und seinen Höhepunkt in der Geburt des Sohnes feierte, um dann in Vorwürfen, Unverständnis, Verachtung, Verlassenheit zu enden. 

Andinas Hauptfigur ist allein; gestohlene Rhododendren ändern das nicht, auch wenn sie im Garten seiner Berghütte ordentlich gedeihen. Doch gerade das Alleinsein, die Abgeschiedenheit scheinen dem jungen Vater gut zu tun. Rast er zu Beginn noch zwischen Arbeit, Arzt, Juristin und Bergdorf hin und her, so wandert er später durch die Wälder, schafft Ordnung, hackt Brennholz, heizt ein, beginnt wieder zu malen. Vor allem aber geniesst er die knapp bemessene Zeit mit seinem Sohn. Andina beschreibt eine liebevolle, beinahe zu rührende Vater-Sohn-Beziehung. 

Allerdings: Etwas Teuflisches passiert immer. Jedoch mit der Zeit scheint es, als wäre diese Tatsache zu meistern.

Dass die Exfrau in diesem Roman als unsensible Hexe wegkommt, lässt bei mir als Leserin den Wunsch aufkommen, man hätte der Frau mit etwas gutem Willen ein Fünkchen Güte zuschreiben können. Eine nur negative Figur wirft Fragen auf, die auf den Autor zurückfallen. Klar, es gibt sie, Elternteile, die ihre Streitigkeiten auf dem Rücken der Kinder austragen. So gesehen auch ein Buch, wie man es auf keinen Fall machen soll, möchte man seinen Kindern nach einer Scheidung den Gang zum Psychologen ersparen.

Besonders gut an diesem Roman gefielen mir: 

Das Tempo: zu Beginn gehetzt, mit der Zeit ruhiger. 

Andinas feine Beobachtungsgabe und Direktheit. Wie er beispielsweise beschreibt, was ein Wachmann in einem Luxusladen erlebt und was ihm so durch den Kopf geht, ist einfach wunderbar. Der Autor ist ein toller Erzähler mit einer grossen Gabe zum scheinbar unscheinbaren Detail. 

Von 8 bis 16 Uhr musste ich die Bulgari-Boutique bewachen, während Arbeiter das Rollgitter des Haupteingangs reparierten, das auf halber Höhe feststeckte, die Leute mussten beim Rein- und Rausgehen den Kopf einziehen und ich sagte, Achtung der Kopf.

Der Aufbau: tagebuchartige, kleine Abschnitte, darüber, wie die Tage ablaufen, dazwischen immer wieder Erinnerungsbruchstücke. Der Leser begleitet auf diese Weise den Protagonisten über ein Jahr.

Titel: Davonkommen, Roman, 242 Seiten, gebunden

Autor: Fabio Andina, übersetzt von Andreas Löhrer

Verlag:  Edition blau, Rotpunktverlag, 2023

ISBN 978-3-85869-976-3, 26.80 Euro/30 Franken