Feinsinnig
Der elegante Titel, bei dem ich zuerst dachte, dass da ein H fehlt, was aber gar nicht stimmte, und das stimmungsvolle Titelbild, auf dem ein frugal gedeckter Mittagstisch (vermutlich aus Pinienholz) mit erlesenem Porzellan zu erkennen ist, machten mich sehr neugierig. Ganz besonders das hübsche Geschirr ließ mich sofort an meine Mutter und ihren selbst gekochten Linseneintopf mit Würstchen denken. Wir gaben dem deftigen Linseneintopf immer einen Schuss Brandwein-, Apfel- oder Himbeer-Essig hinzu, damit man die Hülsenfrüchte besser verdauen konnte. Dazu gab es dann dick mit Pflanzenmargarine von Aldi beschmierte Butterbrote (das Brot war auch von Aldi), weil wir uns keine Butter leisten konnten. Die Speckschwarte musste ich mir immer mit meinem älteren Bruder teilen. Weil er aber älter war (das ist er heute übrigens immer noch), bekam er immer die größere Hälfte und deshalb bin ich klein geblieben. Und darum nennen mich alle meine Geschwister heute noch kleine Schwester. Wie auch immer, das waren jedenfalls schöne Zeiten und zum Nachtisch gab es dann immer Götterspeise. Ist ja jetzt auch egal. Die Leseprobe überwältigte mich jedenfalls.
Leise, tiefgründig und feinsinnig wird hier aus der Sicht der zweitältesten Tochter ein schicksalhafter Tag aus dem Leben ihres Vaters, einem verwitweten Brückenbau-Ingenieurs, erzählt. Es ist Sonntag und wir sind in Turin. Wir begleiten den Rentner durch seinen Tag. Gehen morgens mit ihm aufs Klo und hören ihm beim Denken zu. Nehmen regen Anteil an seinen Gefühlen, seinen Erinnerungen. Zum ersten Mal in seinem Leben kocht er für die Familie seiner ältesten Tochter. Doch die sagt in letzter Minute wegen eines Sturzes ab. Traurig spaziert der Mann daraufhin durch den Park und lernt die junge Elena und ihren sechs Jahre alten Sohn kennen. Das Mittagessen ist gerettet.
Alle sind glücklich. Alle gehen nach Haus. Und dann ist die Geschichte auch schon aus.
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