Rezension

Fesselnd

Wo auch immer ihr seid -

Wo auch immer ihr seid
von Khuê Pham

Bewertet mit 5 Sternen

Philosophisch, Historisch und sprachlich ansprechend

Eigentlich vergebe ich immer maximal 4 Sterne für ein Buch. Eigentlich. Wir mit unserem German Hang zum Perfektionismus. 5 Sterne ist ja irgendwie das Optimum, irgendetwas zu verbessern gibt es wahrscheinlich immer. Glauben wir. Mit voller Absicht möchte ich diesem Buch 5 Sterne geben, bemerkenswert, dass es ein Debut ist, es hat mich sehr interessiert und gefesselt. Ich habe es in drei Tage gelesen, in einem Zug wäre möglich und wünschenswert gewesen, 300 Seiten in 6, 7 Stunden, aber ich wollte zehren, es mir aufteilen, wie eine Tafel Schokolade, den Genuss in die Länge ziehen, bevor es schon wieder vorbei, das Buch zu Ende ist.

Ich bin dankbar, dass mein Bild – vieles nährt sich aus Vorurteilen oder der Angst vor dem Fremden -über Asiaten, respektive Vietnamesen, durch die Lektüre zurecht gerückt wurde, ins rechte Licht, dass ich so viel erfahren durfte über den Vietnamkrieg, die Geschichte, Kultur und Sprache Vietnams und das Wesen der Vietnamesen 'Typisch vietnamesisch, hatte ich gedacht. Ständig muss man zeigen, was man hat (…) im Gegensatz zu Deutschen sind Vietnamesen Herdentiere, je größer die Gruppe, desto wohler fühlen sie sich (162)'.

Dieses Buch war ein Zufallsfund. Gab es für den Drittel-Preis als Mängelexemplar. Mängel konnte ich keine entdecken, im Gegenteil! Was ist das opposite von Mängeln? Gibt es das überhaupt? Mängelfrei. Das Buch ist ein Schatz.

Die Protagonistin Kieu, um die 30, lebt in Berlin und arbeitet als Restaurant-Kritikerin für das Monocle-Magazin. Ihren Namen ändert sie mit 16 zu 'Kim', weil das einfacher wäre. Ihre Verwandtschaft, die sie seit 15 Jahren nicht gesehen hat, ist in allen Herren Ländern verstreut, Deutschland, Kalifornien, England, Frankreich. Sie kennt sie nur aus Erzählungen, was z.B. in Kalifornien geschieht, berührt ihr Herz nicht (9). Bis sich ihr Onkel Son, der Bruder ihres Vaters Minh, der in der Schule so schlecht und im Kartenspielen so gut war, via Facebook an Kim wendet, weil die Großmutter väterlicherseits in Kalifornien im Sterben liegt. Kim erzählt ihre eigene Geschichte, aber auch die ihres Vaters und ihres Onkels Son. Ihr Vater Minh, Jahrgang 1950, kam zum von der Familie erzwungenen Medizinstudium nach Deutschland (Minh hasste Ärzte!), sein Weg führte ihn über Bayern (Sprachkurse) nach Berlin, wo er als Herzchirurg arbeitet und regelmäßig Geld 'nach Hause' schickt. Er soll der Familie durch Emigration zu Ruhm und Reichtum verhelfen, 'the German dream'. Er ist der älteste von 5 Brüdern und war somit immer für die anderen verantwortlich, auch sein Bruder Tuan studiert Medizin, seine Schwester Lan arbeitet als Eventmanagerin in München. Minhs Vater 'besiegelt' sein Leben in einem Umerziehungslager, während Onkel Son mehrmals flieht, um der Situation in Vietnam zu entkommen.

Der Roman ist sehr gut recherchiert. Er geht essentiellen philosophischen Fragen nach, einer Frage, die uns seit Menschengedenken beschäftigt: Wo komme ich her und wer bin ich? Wer bin ich noch, außer dem, was ich so oberflächlich an mir wahrnehme? Wer sind die anderen, die auch noch zu mir gehören? Was hat uns alle zu dem gemacht, was wir jetzt sind?

Dann ist da noch Kims deutscher Freund Dorian (Vielleicht ist der Name bewusst gewählt, Dorian Gray lässt grüßen), dessen Traum es ist, in Tokio ein Restaurant zu eröffnen. Kim begleitet ihre Familie nach Kalifornien, wo das Testament der Mutter vorgelesen werden soll und schlussendlich ein kleines Familiengeheimnis enthüllt wird.

Bereits zu Anfang hat man das Gefühl, dass Kim sich ihrer Herkunft, ihrer Wurzeln schäme, so beeindruckt Dorian sie dadurch, dass er überhaupt nicht danach fragt. Wenn sie in Vietnam für eine Ausländern gehalten wird, freut sie sich, und ihre vietnamesischen Sprachkenntnisse entsprechen eher einem Kauderwelsch. Der Kultur-Vergleich bleibt nicht aus 'Bei den Deutschen beobachte ich dieses ständige Sich-Beweisen müssen nie (…) ,die Deutschen sprachen so frei über Gefühle (102)'. 'Sie ist sehr deutsch', es klingt als hätte ich eine ansteckende Krankheit (110)', 'Ich wollte deutsch und modern sein, nicht ausländisch und streberhaft. Ich wollte aufsteigen, um in einer Kultur anzukommen, die nicht meine war, aber meiner überlegen (229)', ich musste schlucken, als ich letzteres las, seit vielen Jahren schon, bin ich nicht mehr stolz, 'Deutsche' zu sein und diese Überlegenheit-Ideologie hat schon manche Nation und andere ins Unglück gestürzt, zugleich so wenig Eigenliebe für die eigene Kultur?

Der Sprachstil gefällt mir natürlich auch 'Fremd und fordernd starrt mich meine Nachricht in der Dunkelheit an. Smileys hat mein Vater noch nie benutzt (31)'. 'Meine mentale Vorbereitung auf diese Reise bestand vor allem aus Verdrängung (63)'.Als Linguistin geflashed hat mich auch das drittletzte Wort des Romans: Phamilie. Welch gelungener sprachlicher Kniff. Es ist einerseits eine Bild-Hash-Schnittstelle (Schnittstelle Deutschland-Vietnam, Wurzeln/Herkunft- aktuelles Leben) andererseits das Komposition aus dem Autorinnen-Namen und Familie – Ph(F)am-ilie. Die Familie von Pham, hüben und drüben. Phamilie kursiert als Hashtag übrigens auch bei Instagram und Linked.in Das Ende hat mir sehr gut gefallen, weil mich Lee als Gesamtpaket gleich anzog sowie mich Dorians Unreife in einer sich verändernden Situatio abstieß. Es ist das, was Kim verdient. Sie ist erst mal gekommen, um zu bleiben.