Rezension

Filmischer Noir in Dunkelgrau

Die Schuld -

Die Schuld
von Samuel W. Gailey

Bewertet mit 3.5 Sternen

Ihr vierjähriger Bruder stirbt, als sie auf ihn aufpassen soll, Trauer und Schuldgefühle überwältigen die 15jährige Alice – sie läuft ihren traumatisierten und überforderten Eltern davon.

Zwei Erzählebenen hat der Roman, aber trotz der Zeitsprünge verliert man nie die Orientierung. Ebene eins spielt 2005, im Todesjahr des Bruders. Gailey reflektiert Alices Leben vor und direkt nach dem Todesfall, wir lernen die quasi unbeschädigte Alice kennen. Sechs Jahre später, in Ebene zwei, erleben wir ihre Alkoholsucht, ihren miesen Job als Barfrau, ihr abgerocktes Motelzimmer, immer nur ein Trinkgeld von der Obdachlosigkeit entfernt. Und ihren toten Boss, neben dem sie eines Morgens aufwacht.

Alice ist zwar, notgedrungen und durch eine Reihe von schlechten Entscheidungen, zum Bad Girl mutiert, hat aber die Hoffnung nicht aufgegeben, doch noch in ein normales Leben zurückzukehren, „…um in einem Copy Shop Kopien anzufertigen und Papier zuzuschneiden oder den lieben langen Tag Windeln zu wechseln und Nasen zu putzen.“ Ein Leben, in dem ihre Eltern ihr vielleicht sogar vergeben. Aber erstmal muss sie sich und das Drogengeld, die sie ihrem toten Boss gestohlen hat, in Sicherheit bringen. Auf der Flucht stolpert sie über Delilah, die womöglich noch mehr in der Bredouille steckt als sie. Ein schöner Kunstgriff, ihr dieses Mädchen an die Seite zu stellen, die im selben Alter ist wie Alice zur Zeit des Unglücks. Im Kontrast wird noch deutlicher, was aus Alice geworden ist – und wie sie sich gemeinsam gegen allerlei Bösewichte wehren, das hat was von Thelma und Louise.

Die einzige Lichtgestalt in Alices Welt ist der schwule Elton, bei dem Alice direkt nach ihrer Flucht von Zuhause für zwei Wochen untergekommen ist. Ansonsten sind alle männlichen Charaktere schmierig, brutal, psychopathisch – oder farblos, wie Alices Vater, und die Frauen süchtig, gleichgültig oder dumm. Als die Situation sich zuspitzt, scheint wieder einmal Elton die naheliegende Rettung zu sein. Wenn es ihr gelingt, Sinclair, dem Drogenboss, zu entkommen.

Der Roman wird als Crime Noir geführt, hat mich aber als solcher nicht ganz überzeugt. Gailey gibt sich merklich Mühe mit den Noir-obligatorischen blutigen Szenen – aber es hilft nichts, dazu ist ihm seine Heldin zu bürgerlich geraten. Das macht sie zwar sympathisch, erreicht auf der Noir-Skala aber bestenfalls Anthrazit. Vielleicht gelingt es auch Gailey nicht immer, die weibliche Perspektive überzeugend durchzuhalten, und auf so manche unappetitliche Hangover-Szene hätte ich verzichten können, aber seine Heldin hat Kampfgeist und das Herz auf dem rechten Fleck. Mir gefiel es, wie der Autor seine Protagonistin mit ihren Dämonen Alkohol und Schuld kämpfen lässt – verständlich, dass für Alice sämtliche Gefahren von außen dagegen harmlos aussehen. Das führt sehr glaubwürdig zu einer Art rotziger Unerschrockenheit. Wie Alice (schlechtgelaunt und widerwillig) Delilah aus einer blöden Situation raushaut, das hat mich schon sehr amüsiert. Die Lehren, die sie zieht, fand ich allerdings ein wenig platt und wie sie ihre Sucht angeht, unrealistisch dargestellt. Sucht ist – leider – keine Frage allein der Willenskraft. Aber dennoch, sie macht eine Entwicklung durch und bleibt so für die Leserin interessant bis zum Schluss.

Sprachlich störte mich ein gewisser Hang zur Phrasenhaftigkeit und zum Klischee, vor allem, was die Ganoven angeht. Sinclair und sein Gorilla könnten einem Tarantino entsprungen sein – aber auch sie gewinnen im Lauf der Story Profil. Der Unfall, der Alices Bruder zustößt, wirft technische Fragen auf, die der Roman nicht beantwortet. Nimmt man es genau, scheitert das gesamte Konstrukt daran. Allerdings ist der Roman so unterhaltsam, so gut getaktet und so filmisch erzählt, dass man über diese Mängel hinweglesen kann.

Der Showdown am Ende ist, wie sich das gehört, schon zu Anfang angelegt worden und gefiel mir gut – noch besser hätte ich ihn gefunden, hätte sich Gailey zu mehr Unmoral entschließen können. So wird aus dem Anthrazit ein Dunkelgrau.

Fazit: Konventionalität, Originalität und Brutalität halten sich in diesem Krimi die Waage. Eine durchaus lesbare Mischung.