Rezension

Genial, aber auch sehr anspruchsvoll

Passenger: Mystery Thriller - Ronald Malfi

Passenger
von Ronald Malfi

Der „Passenger“ ist der Mann ohne Namen, ohne Erinnerungen und ohne Leben. Er erwacht in einem Bus in Baltimore und besitzt nichts weiter als die nagelneue Kleidung, die er trägt und eine Adresse, die er auf der Innenseite seiner Hand findet.

Nach und nach versucht er, seine Vergangenheit zu ergründen. Warum kann er sich nicht erinnern? Auf seiner Reise zu sich selbst stehen ihm verschiedene besondere Menschen zur Seite und allmählich kommt die Vermutung auf, dass es einen Grund dafür gibt, warum alles so ist wie es ist. Vielleicht darf er sich nicht erinnern.

 

Ronald Malfi war mir bereits vor dieser Veröffentlichung ein Begriff. Mit „Die Treppe im See“ bewies der Autor, dass er in der Lage ist, einen spannenden Plot zu bauen und den Leser mit unterschwelligem Grauen bei der Stange zu halten.

 

„Passenger“ bewegt sich aber in eine ganz andere Richtung und präsentiert sich erst auf den zweiten Blick als etwas, das man in dieser Form nicht erwartet hätte.

Ist „Passenger“ ein Horror-Roman?

Jein.

Diese Geschichte erzeugt eine sehr individuelle Art der Spannung. Es ist die Sorte Spannung, die man empfindet, wenn man ganz dringend wissen möchte, wie es sich mit der Auflösung verhält und wenn man jeden weiteren Schritt in die korrekte Richtung voll angespannter Erwartung in sich aufsaugt.

Definitiv ist es aber nicht die Spannung, die man bei einem typischen Horrorschmöker empfindet. Der Horror in dieser Story entfaltet sich sehr subtil und ist absolut nicht die Art Horror, die der geneigte Leser evtl. erwartet hätte.

 

Den Charakter unseres Namenlosen empfand ich als eine seltsame Mischung aus faszinierend und bemitleidenswert. Malfi gelingt es problemlos, eine Beziehung zwischen ihm und dem Leser aufzubauen, so dass die erzeugte verzweifelte Stimmung nicht nur nahezu greifbar erscheint, sondern sich direkt auf den Leser überträgt.

Die gleiche Wirkung ist Malfi auch bei sämtlichen Nebencharakteren gelungen. Jeder „neue“ Mensch im Leben des Namenlosen steht für ein Stückchen Hoffnung und für einen weiteren Schritt zur Auflösung. Ein jeder ist auf seine Art besonders und keinen von ihnen vergisst man nach dem Lesen wieder.

 

Sprachlich tun sich hier ganz neue Welten auf. Die Beschreibungen sind mitunter ausschweifend und bildhaft, aber nur in dem Maße wie sich Wahrnehmungen in unseren Hirnen tatsächlich abspielen. Malfi gibt exakt das wieder, was man sieht und wie es auf einen wirkt. Oft genug habe ich mich dabei ertappt, wie ich dachte: Ja, genau so und nicht anders empfinde ich bestimmte Eindrücke auch.

 

Obwohl die Geschichte nicht das ist, was ich zu lesen gewohnt bin, hat mich das Buch gegen meinen Willen komplett für sich vereinnahmt. Die Sprache, die Handlung, die Eindrücke – alles im Normalfall nicht mein Ding. Da möchte ich ganz ehrlich sein. Kein Blut, keine Action, keine intelligenten Wendungen.

Aber warum, zum Geier, konnte ich dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen?

Das Geheimnis liegt in der Faszination der meisterhaft geschaffenen Stimmung, die einen schon in den ersten Zeilen einfängt und einem Charakter, der im Begriff ist, sich aufzulösen, ohne dabei an Deutlichkeit und Wichtigkeit zu verlieren.

 

Die Auflösung ließ mich schließlich verstehen und zugleich schwer schlucken. Auch das hatte ich so nicht erwartet, aber ich begriff auf der Stelle. Anders kann ich es nicht beschreiben. Ich begriff einfach nur.

 

„Passenger“ ist eines der seltenen Bücher, bei denen mir für eine Rezension fast die Worte fehlen, um auszudrücken, was ich beim Lesen empfand.

 

Wenn ich jetzt einen Stern abziehe, geschieht das einzig und allein wegen der nicht vorhandenen Massentauglichkeit. Ein reiner Horrorfan, der das Einfache mag und aus purer Unterhaltungslust liest, wird schlicht und einfach mit diesem Roman nichts anfangen können. Das ist schade, aber eine Tatsache. Großen Anklang wird dieses Buch bei den Genuss-Lesern finden, die einen gewissen Anspruch erwarten und Wert auf sprachlich ausgefeilte Werke legen, die allein durch Stimmung und Atmosphäre zu begeistern wissen.

 

Ich würde diesen Roman nicht als Horror-Roman bezeichnen und auch im Mystery-Genre wäre dieses Werk nicht ganz richtig angesiedelt. Tatsächlich bin ich nicht in der Lage, dieses Buch einem Genre zuzuordnen. Wer mir da auf die Sprünge helfen kann, ist herzlich Willkommen, dies zu tun.

 

Fazit:

„Passenger“ von Ronald Malfi war seltsam, faszinierend und einzigartig – ein Roman, der sich in die Seele brennt, obwohl nicht wirklich viel passiert. Kein Pageturner im eigentlichen Sinne, sondern (für meine Begriffe) eine Art unerklärlicher Wortmagnet. Malfi schreibt wundervoll – so viel ist sicher. Ich empfehle diesen Roman allen Lesern, denen es wichtig ist, mit Seele und Verstand zu lesen und mit allen Sinnen in ein Buch einzutauchen. Popcornleser: Nichts für euch, sorry!