Rezension

gestickte Geschichte

Die Seideninsel - Kelli Estes

Die Seideninsel
von Kelli Estes

Inara braucht ein wenig, um sich über das Erbe ihrer Tante zu freuen. Zwar verbindet sie mit dem Haus auf Orcas Island viele glückliche Kindheitstage, aber hier hatte sie auch den Streit mit ihrer kurz darauf verunfallten Mutter, an deren Tod sie sich seitdem die Schuld gibt. Doch auf der Insel angekommen, erkennt sie, dass sie hier eine wahre Heimat finden könnte und aus dem Haus ließe sich doch ein Hotel machen. Jetzt muss sie nur noch ihren Vater überzeugen, dass er ihr einen Kredit gibt. Bei ersten Touren durch das Haus entdeckt sie in einem Versteck einen chinesisch bestickten Ärmel. Auf der Suche nach Informationen dazu stößt sie auf verdrängte Geschichte in ihrer eigenen Familie.

Seattle, Ende des 19. Jahrhunderts: Bei Ausschreitungen gegen die chinesischen Bewohner der Stadt kommt es zu Toten, die junge Mei-Lin wird praktisch deportiert. Um sie vor einem schlimmeren Schicksal zu bewahren, „springt“ sie über Bord und landet schließlich auf Orcas Island.

Ich mag Geschichten, die das Schicksal einer Familie über mehrere Generationen verfolgen und bei denen die modernen Figuren die Geheimnisse der Vergangenheit zu ergründen versuchen. Leider sind das häufig recht seichte Geschichten, in denen das Geheimnis nur dazu dient, die Heldin Bekanntschaft mit dem Mann machen zu lassen, für den sie sozusagen „bestimmt“ ist. Zwar trifft Inara im Rahmen ihrer Recherchen ebenfalls einen Mann, in den sie sich verliebt, ansonsten wurde ich aber positiv überrascht, das Buch ist nämlich deutlich weniger oberflächlich als ich erwartet hätte und trotz diverser strategisch platzierter Zufälle, hatte ich nicht das Gefühl, dass die Autorin stets den erst besten Weg eingeschlagen hat. Dabei gefielen mir die Szenen in der Vergangenheit allerdings noch etwas besser, die Figuren dieses Handlungsstrangs, allen voran Mei-Lin, wirken auf mich realer als die der Gegenwart. Auch mit der Auflösung des sich eigentlich stetig weiter zuspitzenden Konflikts zwischen Inara und ihrem Vater bin ich nicht ganz glücklich, hier hat die Autorin einen ziemlich bequemen Weg gewählt.

Die Autorin thematisiert allerdings sehr ausführlich, und wie ich finde, sehr gelungen, die Verfolgung der chinesisch stämmigen Bewohner der US-Westküste im 19. Jahrhundert und zeigt dabei auch verschiedene Varianten der damals vorhandenen Diskriminierung, so dass ein durchaus differenziertes Bild entsteht. Als zweiten Aspekt betrachtet sie auch den heutigen Umgang mit der damals entstandenen Schuld und findet eine auf mich „ehrenhaft“ wirkende Lösung.

Mit „Die Seideninsel“ ist Kelli Estes eine generationenübergreifende Geschichte um ein Familiengeheimnis gelungen, die deutlich mehr Tiefe aufweist als für dieses Genre üblich ist. Ich bin gespannt, ob und was sie nach diesem Debüt in Zukunft schreiben wird – eine potentielle Leserin dafür hätte sie schon mal.