Rezension

Glück vs. Pflicht

Das Band, das uns hält -

Das Band, das uns hält
von Kent Haruf

Bewertet mit 5 Sternen

Die 80jährige Edith Goodenough liegt im Krankenhaus. Nach ihrer Genesung soll ihr der Prozess wegen Mordes gemacht werden. Wie ist es so weit gekommen?

Ediths Vater Roy ist als später Pionier in die High Plains von Colorado eingewandert.  Mühsal und Rückschläge im Versuch, dem kargen Land einen Lebensunterhalt abzuringen, verstärken sein reizbares Temperament, und bald bestimmen Repression und Gewalt sein Handeln gegenüber Frau und Kindern. Seine Frau flüchtet noch jung in den Tod und lässt die Geschwister allein mit ihm.

Ediths Geschichte – und die des Ford County mit dem fiktiven Ort Holt, den wir schon aus Harufs späteren Romanen kennen – erfahren wir aus der Perspektive von Sanders. Sanders Sicht wiederum ist geprägt durch seinen verstorbenen Vater, der Edith gerne geheiratet hätte. Wir begegnen der Protagonistin folglich nur in der Außensicht. Auch wen sie getötet haben soll, erfahren wir sehr lange nicht; der Spannungsbogen des Romans entsteht aus diesen Leerstellen.

Die Ereignisse der Weltgeschichte fließen wie nebenbei in den Roman ein – der Angriff auf Pearl Harbor zum Beispiel ist für Ediths Bruder Lyman ein willkommener Anlass, vor dem zornigen Patriarchen zu flüchten: er meldet sich zur Marine. Als Roy stirbt und Lyman zurückkehrt, scheint endlich Ediths Zeit gekommen. Aber wieder wendet sich ihr Geschick und es kommt anders, denn da ist „Das Band, das uns hält“. 

Das ist beim Lesen schwer auszuhalten, gerade in unserer Gegenwart, die dem Diktat der Selbstverwirklichung folgt. Ein genialer Kunstgriff des Autors, eine Figur ihre Werte so hoch halten zu lassen, dass persönliches Glück unmöglich wird. Will der Autor diese Werte feiern oder in Zweifel ziehen? Er vermeidet Eindeutigkeit und schickt die Leserin auf eine Achterbahn der Hoffnung, des Mitgefühls, der Empörung und des Zweifels. Wie auch in seinen späteren Romanen wird die Kleinstadt Holt in den High Plains von Colorado zum Brennglas für das, was uns Menschen ausmacht – oder ausmachen sollte.

Das klingt nach einem Ideenroman, ist aber keiner – dazu sind Harufs Figuren viel zu lebendig. Auf Augenhöhe schildert er das harte Leben der einfachen Leute. Im Bemühen, die Härten des Landlebens möglichst realistisch zu schildern, schießt Haruf ein wenig über das Ziel hinaus, aber vielleicht hat gerade das mich den Roman mit wachsender Faszination lesen lassen. Ich mochte auch die Elemente des klassischen Westerns, die Haruf in seinem Setting verarbeitet - sein Erstling ist deutlich rauer und kantiger als seine späteren Romane; das gilt auch für seine kompromisslose Figurenführung. Gerade das Ambivalente, Kantige und  Raue hat mir gefallen.

Der spätere Meister ist in diesem Erstling schon deutlich zu spüren. Leseempfehlung!