Rezension

Grautöne

Der graue Peter -

Der graue Peter
von Matthias Zschokke

Der Beamte Peter hat sich in ein Schicksal ergeben, das ihm ständig schwere Schläge zufügt. Er fühlt nichts. Wenigstes ist das seine Überlebensstrategie. Doch dann wird ihm ein Junge anvertraut. Und jemand stellt ihm die Frage: Sind Sie ein Perverser? Melancholisch, meisterlich und nüchtern-unpathetisch geschrieben. Ohne Happy End, aber rührend und berührend und nicht frei von Ironie.

Manchmal ist grosse Kunst ganz schön verstörend. Ich denke an den Film Birth mit Nicole Kidman, an Lolita von Nabokov – und neuerdings auch an Matthias Zschokkes Roman Der graue Peter. In allen drei genannten Werken geht es um das gestörte Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern. Bei Birth ist es eine junge Witwe, die in einem Buben die Inkarnation ihres verstorbenen Mannes sieht, bei Lolita ist es ein Mann, der sich sein sexuelles Verhältnis zu seiner zwölfjährigen Stieftochter schönschwärmt, und bei Zschokke ist es ein Mann, der sich in seinem Leben vollkommen fremd fühlt. Per Zufall fällt ihm die Aufsicht über einen Knaben zu. Er übernimmt die ungewohnte Aufgabe und überschreitet dabei Grenzen.

In allen drei Fällen sollte man Acht geben, von den Schöpfern der Werke nicht aufs Glatteis geführt zu werden. Bei Nabokov besteht die Gefahr – wie die Geschichte der Auslegung des Romans zeigt –, dass man sich die Sicht des Täters zu eigen macht und die zwölfjährige Dolores als Nymphe und Verführerin wahrzunehmen beginnt. Womit der Bock zum Gärtner, d. h. Nabokov in eine üble Ecke gestellt wurde. Bei Birth wurde die Schauspielerin Nicole Kidman für die Rolle kritisiert, was nur dafür spricht, wie gut sie diese umgesetzt hat. Zschokke wiederum ist einer, der offenbar gleichfalls gerne Grenzen auslotet und literarische Wagnisse eingeht. Für Leser heisst das: Raus aus der Komfortzone.

Zur Story: Peter arbeitet als Beamter in Berlin. Er lebt ein unaufgeregtes, graues Leben. Peter hat sich gänzlich von seinen Gefühlen abgekoppelt. Er weiss nicht, wie er mit der Tragik seines Lebens umgehen soll und verheddert sich in Ungeschicklichkeit. Wie es soweit kommen konnte, versteht der Leser bald einmal. (Wie man so leben kann ohne zusammenzubrechen, ist jedoch schwerer zu erfassen.) Auf einer Zugfahrt von Frankreich in die Schweiz wird Peter ein Knabe namens Zéphyr anvertraut. Er soll ihn in Basel seinem Onkel übergeben. Doch Peter übernachtet unterwegs mit dem Jungen in einem Hotel. 

Die Beziehung zu dem Buben schwankt zwischen väterlicher Fürsorge und höchst befremdlichen Szenen. Wenn dem Leser dabei Gedanken an Pädophilie kommen, ist das wohl beabsichtigt. Um es klar zu sagen: Einen direkten sexuellen Missbrauch habe ich aus dem Buch nicht herausgelesen. Die Hauptfigur hat aber meiner Meinung nach ein Problem mit Nähe – Distanz und definitiv mit kindgerechter Kommunikation.

Zschokke erzählt das Leben und die Begegnung mit Zéphyr von Peter so nüchtern, dass ich lieber von Untertreibung spreche. Den lakonischen Ton verliert er auch bei den härtesten Stellen nicht, was ihnen zusätzliche Intensität verleiht. An manchen Stellen erlaubt sich Zschokke den Spass, «Autoren-Arbeitsnotizen» im Text zu belassen.  Beispiel:  (In einem ornithologischen Fachbuch nach Nistgewohnheiten von Amseln suchen.) 

Auch setzt er Ereignisse und menschliche Begegnungen in Bezug zueinander, die nichts miteinander zu tun haben, aber eine Stimmung ergeben, die gut zu der Hauptfigur passt, welcher «ein Empfindungschromosom fehlt». Doch in der Begegnung mit Zéphyr, (in der Mythologie ein milder Westwind, ein göttlicher Frühlingsbote) scheint etwas in Peter aufzubrechen. 

Titel: Der graue Peter, Roman, 171 Seiten, gebunden

Autor: Matthias Zschokke

Verlag:  Edition blau, Rotpunktverlag, 2023

ISBN 978-3-85869-977-0, 24 Euro/28 Franken