Rezension

Intensiv, mitreißend, tragisch

Der Sommer, in dem alles begann -

Der Sommer, in dem alles begann
von Claire Léost

Bewertet mit 4 Sternen

Hélène ist sechzehn Jahre alt und lebt in der Bretagne: „Ihre Heimat, das ist nicht die anmutige Bretagne mit Meer und Möwen, den Gezeiten und dem Stechginster, der Salz und Sonne trotzt, nicht die Bretagne der Touristen und Segeljachten. Ihre Heimat, das ist das Landesinnere, die Bretagne der Kalvarienberge und Kapellen, mit moosbewachsenen Steinen, Farnkraut und Laubteppichen unter den Bäumen. Die Bretagne, in der man nicht Urlaub macht.“ Hélène ist zufrieden mit ihrem Leben und sie träumt nicht von der großen weiten Welt. Erst als die elegante und anmutige Literaturprofessorin aus Paris, Marguerite, als Lehrerin in die Bretagne kommt, stellt sie nicht nur Hélènes Welt auf den Kopf, sondern rüttelt das ganze Dorf auf – ganz besonders der Witwe Tanguy ist sie ein Dorn im Auge und so beschließt diese jener einen Denkzettel zu verpassen. Es brodelt auch in anderer Hinsicht unter der Oberfläche, denn Marguerites Ehemann Raymond bringt Hélènes Innenleben zunehmend durcheinander und ihr bretonischer Freund Yannik, der Hélènes innerliche Veränderung wahrnimmt, fühlt sich zu den rebellischen Kräften der Bretagne hingezogen. Eine Katastrophe ist vorprogrammiert. Gleichzeitig lernen wir das tragische Schicksal von Odette kennen, die während des zweiten Weltkrieges ihre Eltern verliert und nach Paris geht, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Wie ihr Schicksal mit dem von Hélène und Marguerite zusammenhängt, erfahren wir im Laufe des Romans.

Claire Léost ist eine Meisterin der leisen, intensiven Töne und der bittersüß tragischen Komponenten. Die Autorin hat einen wunderbaren, intensiven und mitreißenden Roman geschrieben, der tatsächlich die perfekte Sommerlektüre ist – denn wenn die Tage lang sind, kann man bis spät in die Nacht lesen. Ich konnte mich von Hélène, Marguerite und Odette und ihren tragischen Schicksalen nicht losreißen. Ich habe die Geschichte um diese drei Frauen an einem Tag und einer Nacht gelesen, bis mir die Augen brannten. Losreißen konnte ich mich nicht. Weswegen ich bei all dem Lobgesang nicht ganze fünf Sterne vergebe? Das hat zwei Gründe: Zum einen fand ich das erste Kapitel, in dem zwei Beerdigungen geschildert werden, äußerst verwirrend. Alle vorkommenden Figuren werden mit Namen genannt und die Szene wird sehr reduziert beschrieben. Ich konnte verständlicherweise nicht nachvollziehen, wer wer ist, und was es mit den einzelnen Personen auf sich hat. Als ich im Roman weiter fortgeschritten war, bin ich zu der Beerdigungsszene zurückgekehrt und habe sie im Nachhinein besser verstanden. Entweder hätte man die Szene anders schreiben oder chronologisch passend in den Roman einfügen sollen. Mein zweiter Kritikpunkt betrifft die Figur der Odette, deren Entwicklung ich im Laufe des Romans nicht recht überzeugend fand. Abgesehen von den beiden Kritikpunkten war ich von „Der Sommer, in dem alles begann“ – im Original „Le Passage de l’été“, also „Das Vergehen des Sommers“ – sehr angetan. Der Schreibstil, der niemals ins Sentimentale abdriftet noch an Glaubwürdigkeit verliert, hat mich sehr aufgerüttelt, und die in sich stimmige Geschichte noch lange nach Beendigung der Lektüre beschäftigt. Vor allem auch die Beschreibung der Bretagne – der Landschaft und des Klimas, deren Einwohner und ihrer Mentalität sowie der sprachlichen Besonderheiten – da ich Französisch verstehe, war dies oftmals aufschlussreich und erheiternd für mich – war sehr authentisch und hat der erzählten Geschichte das gewisse Etwas und das landestypische Flair verliehen. Eine große Leseempfehlung von meiner Seite, nicht nur für frankophile Leser!