Rezension

intensiv, tiefgründig und bewegend – – meine absolute Leseempfehlung

Flüchtige Seelen
von Madeleine Thien

Bewertet mit 5 Sternen

Janie arbeitet als Neurologin in Montreal; als ihr Freund, Mentor und Arbeitskollege Hiroji plötzlich verschwindet, macht sie sich auf die Suche nach ihm und ihrer eigenen Vergangenheit.
Beide haben während der Revolution der Roten Khmer ihren Bruder verloren, aus ihren Augen, aber nicht aus ihrem Leben. Immer wieder haben sie in den Gesichtszügen anderer, in Träumen oder Erinnerungen den Bruder erkannt und schmerzlich vermißt.
Herojis Bruder war damals als Arzt mit dem Roten Kreuz in Kambodscha, Janie, die damals Mei hieß und als Kind zu einer Pflegefamilie in die USA verschifft wurde, hat eigene Erinnerungen an diese Zeit.

Madeleine Thien erzählt in ihrem Roman „Flüchtige Seelen“ diese Erinnerungen aus verschiedenen Perspektiven, von unterschiedlichen Leuten, vom Vertreiben aus der Heimatstadt, den Erziehung-, Schulungs- und Arbeitslagern, Befragungen durch das „Amt für Sicherheit“, Hinrichtungen, von Kindersoldaten und der Ohnmacht, selber in dieser Situation etwas zu verändern, davon, wie man mit Hunger verzweifelt versucht, zu überleben – wenn es nicht anders geht, Morde begeht um sich selber zu retten, das langsame Abstumpfen bis zur Aufgabe der eigenen Identität, denn bei den wiederholten Befragungen nach dem Lebenslauf, war es überlebenshilfreich, sich eine neue Identität auszudenken, vorzugsweise als Vollwaise.

Ganz ohne reißerische, blutige Szenen, sondern eher poetisch, immer wieder mit vielen wunderschönen, tiefsinnigen Sätzen beschreibt die Autorin, wie die politische Säuberung unter Pol Pot die Menschen in Kambodscha verändert hat, wie sie damals die Dinge sahen und mit den Folgen umgehen. Sehr interssant fand ich die Frage der Betroffenen, wieviele Leben sie gelebt haben und das Problem, die eigene Identität zu begreifen und ohne Schuldgefühle weiterzuleben, nicht nur wegen eigener Taten, sondern auch wegen des Gefühls, die Familie zurückgelassen zu haben, wenn man gerettet und in Sicherheit war. Die Beschreibungen der Träume und Sichtweisen, dass die Vermissten endlos in uns weiterleben, dass man die Vergangenheit loslassen muß um weiterleben zu können, dass je weiter man flieht, der Heimweg umso länger wird, haben mich sehr beeindruckt, genauso wie die Beschreibungen der Versuche danach Normalität herzustellen, beispielsweise mit zusammengefundenen neuen Familien.

Ganz leise, durch kleine Szenen, häufig auch einfach zwischen den Zeilen, erzählt Madeleine Thien eine zeitlose Geschichte über eine Revolution, die ursprünglich eine bessere Welt für alle im entsprechenden Land bringen sollte, den wütenden Krieg samt Massenvernichtung und seiner Folgen auch für spätere Generationen; ein Thema, das eigentlich immer aktuell ist und sehr zum Nachlesen und -denken auffordert. Das Buch ist so fesselnd geschrieben, dass man es kaum aus der Hand legen möchte – und doch mußte ich es zwischendurch, um mich online über Einzelheiten weitergehend zu informieren.

Für mich war dieses ein ganz besonderes Buch, dem ich, wenn die Möglichkeit bestünde, mehr als fünf Sterne geben würde.