Rezension

Interessanter Versuch einer Persönlichkeitsstudie

Poesie und Gewalt - Ingeborg Gleichauf

Poesie und Gewalt
von Ingeborg Gleichauf

Bewertet mit 5 Sternen

Gudrun Ensslin (1940-1977) gilt als Mitbegründerin der RAF in Deutschland. Über die RAF und vor allem über ihre prominenten Mitstreiter Andreas Baader und Ulrike Meinhof sind bereits unzählige Bücher, gar Filme erschienen und Urteile gefällt wurden. Doch wie sieht es mit der fleißigen Arbeiterin im Hintergrund, der einstigen Pfarrerstochter Gudrun Ensslin aus? War sie wirklich eine hysterische bis fanatische Terroristin ohne Gewissen? 

Die Autorin Ingeborg Gleichauf versucht mit ihrer engmaschigen Persönlichkeitsstudie wie Biografie, sich ein objektives Bild von Ensslin jenseits des vorgefertigten, subjektiven Meinungsmainstreams zu machen. Detailreich, unter Bezugnahme auf Originalbriefe und bereits erschienene Studien nähert sie sich der komplexen Persönlichkeit ihrer Hauptfigur. Überwiegt im ersten Lebensabschnitt mit Kindheit und Schule sowie Studium der Eindruck, dass Ensslin eine disziplinierte und hochintelligente Zeitgenossin gewesen ist, die sich immer ihre Meinung gebildet hat, so ist der zweite Lebensabschnitt geprägt vom Ausbrechen aus Konventionen und einer starken Politisierung. Kurzum, aus dem braven, klugen Mädchen ist eine eigensinnige bis kämpferische junge Frau geworden. Hieran hatte vor allem ihr zweiter Lebensgefährte Andreas Baader sowie die Ermordung Benno Ohnesorgs von 1967 einen großen Anteil. Infolge kappte Ensslin familiäre wie freundschaftliche Bindungen und verschrieb sich voll und ganz dem Kampf gegen die voranschreitende Konsumgesellschaft bzw. alte Nazieliten. Was sich dann ereignete, ist hinlänglich durch die Medien bekannt. Im sog. deutschen Herbst brannten Kaufhäuser, wurden Banken ausgeraubt uvm.  

Das Spannende und Neue an Gleichaufs Darstellung ist die Zentrierung auf eine Randfigur des sog. deutschen Terrors.   
Bei der Lektüre wird schnell klar, dass Ensslin vor allem eine intelligente Literatin gewesen ist, die stets narrativ dachte und lebte; was auch ihr Germanistik- und Anglistikstudium in Tübingen zeigt. Zudem machte ihr offener Charakter sie zu einem beliebten als auch manipulierbarem Menschen. Sie wollte raus aus der dörflichen schwäbischen Einöde und über philosophische wie literarische Denkmodelle diskutieren. Den hohen Stellenwert des geschriebenen Wortes in ihrem Leben unterstreicht die Autorin auf interessante Weise, indem sie häufig Zitate aus Werken einbaut, die Ensslin zu damaligen Zeit rezipiert hat. Somit ist dieses Sachbuch alles andere als leichte Kost, denn man muss sich in einige Sachverhalte erst hineinlesen, um deren Bedeutung für die Hauptfigur zu verstehen, wird aber danach mit reicher Erkenntnis gesegnet.  

Neben diesem literarischen Schwerpunkt überzeugt Gleichauf mit ihrer Beschreibung der Person Ensslin, die keine angepasste Spießerfrau gewesen ist, sondern ihren Sohn Felix in Hochzeiten des RAF-Terrors an den Vater bzw. Verwandte weiterreichte. Denn ein normales Sozialleben kannte sie nicht bzw. war kompliziert, gerade mit einem Mann wie Andreas Baader, der noch verheiratet gewesen ist, als man zusammenzog, an ihrer Seite. Um die Nation wachzurütteln, hat sie alles hintangestellt.  
Die Psyche von Ensslin 100%ig zu entschlüsseln, gelingt auch Gleichauf nicht und wird wohl auch keinen nach ihr gelingen, denn die Hauptzeugin - Ensslin selbst - ist längst tot. So bleiben alle Ausführungen zu ihrer Persönlichkeit ab einem bestimmten Punkt hypothetisch. Dennoch ist festzuhalten, dass sich die jugendliche Ensslin diametral von der erwachsenen Ensslin unterschied. Erst aufgeschlossen und wissbegierig und später verschlossen bis revolutionär. 

FAZIT 
Eine spannende wie interessante Studie zur Person Gudrun Ensslin, die gemäß dem Titel die beiden beherrschenden Themen ihrer Vita "Gewalt" und "Poesie" überzeugend in den Blick nimmt. Aber Fragen bleiben...