Rezension

Jeder braucht eine Person, die ihn an die Hand nimmt ...

Licht über dem Wedding - Nicola Karlsson

Licht über dem Wedding
von Nicola Karlsson

Bewertet mit 4.5 Sternen

Hannah Hoch arbeitet als Model und Internet-Influencerin für Klamotten. Mit dem Fotografen Fabian lebt sie zusammen, den sie für seine Arbeit bezahlt und mit dem ihre Karriere steht und fällt.  Fabian behandelt sie herablassend, als wäre sie ein Kind. Sie erträgt es um des Moments willen,  in dem sie sich für schön halten darf, obwohl sie daran zweifelt.  Hannah hält den Wedding als Stadtviertel für unter ihrer Würde. Schon zu ihrer Schulzeit  hielt sie sich für etwas Besseres  -  und musste die Folgen ihrer Hochnäsigkeit tragen. Heute lebt sie mit Fee zusammen in einer WG. Sie braucht Fee für das Gefühl begehrt zu sein und ist zugleich eifersüchtig auf sie. Hannah braucht die Honorare für ihre Bloggertätigkeit, um die Miete zu bezahlen. Sie fotografiert sich in Kneipen und kleinen Läden selbst schnell in Klamotten,  die ihr  Modefirmen unaufgefordert zuschicken - ohne die Ladenbesitzer an ihren Honoraren zu beteiligen. Arbeit als Model ohne Vertrag, ein Leben als Egotrip durch  Ausbeutung anderer - das kann nicht lange gutgehen. Als Hannah Mickey kennenlernt, scheint das der erste Kontakt mit so etwas wie Normalität in ihrem Leben zu sein.

Zwei Welten begegnen sich, als Hannah im Treppenhaus ihres Hochhauses Agnes trifft. Auch Hannah hat es als Jugendliche nicht leicht gehabt. Die beiden Mädchen trennt weniger, als sie annehmen. Agnes, willensstark und sensibel,  lebt schon ewig allein mit ihrem Vater, dem  gerade sein Leben entgleitet. Wolf wird im Suff gewalttätig. Vater und Tochter wissen, wenn die verletzte Agnes in die Notaufnahme geht und das Krankenhaus Anzeige erstattet, verliert Wolf das Sorgerecht. Agnes hasst arrogante Tussis  wie diese Hannah. Sie scheint zu  ahnen, dass Mieterinnen  wie diese der erste Schritt zur Gentrifizierung eines Sanierungsgebietes sein werden, der Vertreibung der alteingesessenen Mieter aus ihrer gewohnten Umgebung. Agnes ist 15, trägt Doc Martens und Netzstrumpfhose. Ihr Vater ahnt, dass es nichts Gutes bedeuten kann, wenn ein schwieriges, schweigsames Kind plötzlich zu viel redet. Mädchen wie Agnes wünschen sich häufig ein Kind, um „etwas Eigenes“ zu haben. Ein Rückblick in Agnes Kindheit zeigt, dass sie früh gelernt hat, allein klarzukommen und Männer stets bei Laune zu halten. Im Tausch gegen Schutz und Ansehen haben Frauen in Agnes Welt Männer mit Sex zu bezahlen. Der zuständige Sozialarbeiter tut derweil alles andere, als Agnes zu vermitteln, dass sie beim Jugendamt Hilfe bekommen kann. Als ein Brief vom Jugendamt kommt, der Wolf zu einem Termin über das Sorgerecht für Agnes bestellt, bricht das dünne Eis unter ihm. Noch schockierender scheint das Leben von Luca zu sein, die winzig klein und vernachlässigt bei Hannah klingelt.

Nicola Karlsson erzählt von Menschen, die sich aus der Trostlosigkeit ihres Alltags wegträumen und die Welt so zeichnen, wie sie sie gern hätten. In Wirklichkeit brauchen sie alle jemand, der sie an die Hand nimmt. Doch wer würde wagen, Wolf, Agnes oder Hannah zu fragen, ob sie Hilfe brauchen? Allein Mickey hat die Sache offenbar im Griff: Warte nicht, dass dich jemand rettet, werde endlich erwachsen, sagt er. Mit zahlreichen Rückblenden in die Kindheit von Hannah und Agnes entsteht hier ein komplexer Plot, mit dem das an einigen Stellen durchscheinende Pathos nicht immer harmoniert.