Rezension

Jenseits von Bollywood und Taj Mahal

Gewaltkette - Anita Nair

Gewaltkette
von Anita Nair

Bangalore, drittgrößte Stadt Indiens, Technologie- und IT-Zentrum, auf den ersten Blick eine moderne Metropole, die stellvertretend für die Anstrengungen Indiens auf dem Weg in eine bessere Zukunft steht . Kratzt man jedoch an der Oberfläche, offenbart sich eine zutiefst zerissene Gesellschaft, die versucht, sich aus der Tradition zu lösen, aber noch nicht in der Moderne angekommen ist. Postkolonialismus und Kastenwesen prägen noch immer den Alltag, dazu kommen die negativen Auswüchse moderner Industriegesellschaften. Landflucht und Übervölkerung, bittere Armut und protzender Reichtum, Slums und Paläste, Kriminalität und Korruption.

Hier ermittelt Inspektor Gowda, unterstützt von seinem Team. Und wie Bangalore vereint auch Gowda zahlreiche Widersprüche in sich. Beruflich kann man ihm nichts vorwerfen, er ist absolut professionell, integer, ein Mann mit Grundsätzen. Anders hingegen sieht es im Privaten aus, hier nimmt er es mit der gängigen Moral nicht so genau, hat außer seiner Ehefrau auch noch eine Geliebte und wird weder der einen noch der anderen gerecht.

Aktuell arbeitet er an zwei Fällen. Zum einen ist da der bekannte Anwalts, wohnhaft in einer hochgesicherten Luxussiedlung, der dort mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden wird, zum anderen ist die zwölfjährige Tochter seiner Haushaltshilfe spurlos verschwunden. Zuerst scheint es, als ob das eine mit dem anderen nichts zu tun hätte, aber im Laufe der Ermittlungen muss Gowda feststellen, dass zwischen beiden Ereignissen eine unheilvolle Verbindung besteht.

Kinder als Ware, verschleppt, verkauft, misshandelt und prostituiert. Kinder, die den Reichen und Mächtigen zu Willen sein müssen - ein Thema, das an die Nieren geht. Aber Anita Nair entwickelt ihre Story behutsam und mit viel Fingerspitzengefühl. Wo andere Autoren mit drastischen Szenen aufwarten macht sie Andeutungen und überlässt so vieles den Vorstellungen des Lesers. Und gerade das macht ihre Schilderungen umso eindringlicher. „Gewaltkette“ bietet einen ungeschönten Blick auf Indien, ein Land, das sich als Industrienation präsentiert, aber noch immer seine patriarchalische Prägung in einem Alltag lebt, in dem Frauen und Kinder ausgebeutet und ihnen jegliche Rechte verweigert werden. Lesen!