Rezension

Kinder sind eben anders

Kinder sind anders - Maria Montessori

Kinder sind anders
von Maria Montessori

Bewertet mit 5 Sternen

Maria Montessori zählt zu den Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich studierte sie Medizin und war als Ärztin mit dem Schwerpunkt Anthropometrie tätig. Nach ihrer erfolgreichen Arbeit mit behinderten Kindern, entwickelte sie Lernmaterial und gründete eine Pädagogik, die sich auch an alle Kindern richtet. Ihr Buch „Kinder sind anders“ erschien erstmals 1950 unter dem Originaltitel „Il segreto dell‘ infanzia“. Der vorliegende Einband wurde vom Klett Cotta Verlag unter der Reihe „Kinder fordern uns heraus“ veröffentlicht. Unter dieser Reihe befinden sich noch andere pädagogische Werke von verschiedenen Autoren.

Nach dem Vorwort von Professor Ingeborg Schmidt, die einen kurzen Überblick über die Arbeit und das Lebenswerk Maria Montessoris gibt, wird in der Einleitung die Kindererziehung als soziale Frage besprochen. So wird zu Beginn festgestellt, dass es neben der sozialen Frage des Erwachsenen, auch noch eine soziale Frage des Kindes gibt. Montessori ist der Überzeugung, dass alles Gute und alles Böse in einem Menschen seinen Ursprung in der Kindheit hat. Somit misst Maria Montessori der Arbeit mit Kindern eine große Wichtigkeit bei. Für sie selbst stellt es eine „Enträtselung des Geheimnisses der Menschheit“ dar.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil befasst sich Maria Montessori sehr viel mit dem Kind an sich, aber auch mit dem Umgang des Erwachsenen mit Kindern. Dabei übt sie sich schon mit scharfer Kritik, auf die ich später noch eingehen werde. Zu Beginn geht die Autorin auf die Psyche des Kindes ein. Sigmund Freuds Arbeit sind hierfür fundamental. Montessori zeigt dem Kind gegenüber sehr viel Einfühlungsvermögen. Das zeigt sich bereits sehr deutlich im Kapitel über das Neugeborene. Hier versucht sie den Leser in die Lage eines Neugeborenen zu versetzen und weist dabei auf die misslichen Umstände hin, die in Geburtshäusern herrschen. Des weiteren erläutert sie die „sensiblen Perioden“ des Kindes, die fundamental sind und denen immer noch viel Aktualität beigemessen wird. Maria Montessori nimmt gerne Beispiele und Vergleiche aus der Natur heraus. Dies war zur damaligen Zeit sehr populär und zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch.

Im zweiten Teil beschreibt Maria Montessori sehr viel ihre Arbeit mit Kindern. Hauptsächlich geht es zunächst um das Kinderhaus, das sie gegründet hat und welche Erfahrungen und Beobachtungen sie über die Kinder machen konnte. In den Kapiteln geht sie sehr exemplarisch vor und bringt in jedem Einzelnen Anekdoten aus ihren Beobachtungen vor. Sie zeigt auf, wie sich Kinder in ihren Häusern zum positiven änderten und weist zusätzlich auf Abwegigkeiten hin. Dabei beschreibt sie, wie es sich auf das Kind auswirkt, wenn bestimmte seelische Bedürfnisse nicht befriedigt werden bzw. wenn man dem Kind keinen Raum zur freien Entfaltung anbietet. Dies drückt sich beispielsweise durch Abhängigkeit, Besitztrieb, Minderwertigkeitskomplexe usw. aus.

Im letzten Teil wird stark auf die Arbeitsweise des Kindes eingegangen und wie sich diese vom Erwachsenen unterscheidet. Montessori betont dabei die Wichtigkeit der Arbeit von Kindern und weist den Leser darauf hin, dass Kinder den Menschen der Zukunft ausbilden.

Das Buch richtet sich an jeden Erwachsenen, der mit Kindern zu tun hat: Pädagogen, Erzieher und Lehrer. Montessori hat eine sehr klare und einfache Ausdrucksweise und ist somit auch für Eltern als Lektüre bestens geeignet, da sie ihre Kritik hauptsächlich an Eltern richtet.

Ihr Buch wirkt an manchen Stellen überholt. Hier und da gibt es bereits Verbesserungen (wie zum Beispiel der Umgang mit Säuglingen in Geburtshäusern). Jedoch muss man mit Schrecken feststellen wie viel Aktualität ihr Werk noch besitzt. Die Autorin lehrt uns Kinder besser zu beobachten und zu verstehen. Man kann sehr viel lehrreiches mitnehmen - so ist ihre Hingabe eine Inspiration.

Allerdings erhebt Maria Montessori ganz stark den moralischen Zeigefinger und läuft damit Gefahr Erwachsenen vor den Kopf zu stoßen. Wahrscheinlich war dies auch beabsichtigt, leider fühlt man sich dadurch sehr stark angegriffen und das ist meines Erachtens kontraproduktiv. Gerade an der Stelle, in der Montessori scharf kritisierte, dass Eltern ihre Kinder aus ihrem Leben aussperren, um in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen, frage ich mich hinsichtlich ihrer eigenen Biografie an wen sich diese Kritik eigentlich wendet...

Zwischendurch hat man das Gefühl, dass Montessori das Kind ziemlich idealisiert. Dabei war ihr eigentliches Ansinnen, dem Kind eine gleichberechtigte Stellung dem Erwachsenen gegenüber an zu erkennen. Dies gelingt ihr am Ende, indem sie Erwachsene und das Kind als Könige in ihrer eigenen Disziplin bezeichnet. Im vorhergegangenen Text gewinnt man oft den Eindruck, dass Montessori das Kind über den Erwachsenen stellt. Die Idealisierung des Kindes drückt sich an der Spitze dadurch aus, dass Montessori im Kind die Verkörperung Jesu Christi sieht. Es gibt wiederholt Bibelverweise und -zitate, die ich auch nicht verwerflich finde, aber der Text am Ende des dritten Kapitels ist meiner Meinung nach unangebracht. Ich verstehe Montessori so, dass man im Kind einen heranwachsenden Menschen sehen und als solchen verstehen soll. Diese Mystifizierung ist dabei nicht sehr hilfreich.