Rezension

Kinder und Pflegemutter wachsen über sich hinaus

Gras unter meinen Füßen -

Gras unter meinen Füßen
von Kimberly Brubaker Bradley

Bewertet mit 5 Sternen

Die Welt der 9-jährigen Ada liegt zwischen Zimmertür und ihrem Ausguck-Stuhl am Fenster; bis zur Toilette auf dem Treppenabsatz schafft sie es nicht mit ihrem „verdrehten“ Fuß. Da ihrer aggressiven Mutter offenbar viel daran liegt, Ada von anderen Menschen fernzuhalten und selbst das Opfer zu spielen, wird das Mädchen für geistig zurückgeblieben gehalten. Adas jüngerer Bruder Jamie beginnt mit kaum 6 Jahren mit einer Jungenbande in den Londoner Docks herumzustrolchen, so dass Ada immer stärker vereinsamt. Als nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Londoner Kinder aufs Land nach Kent evakuiert werden sollen, wissen beide Kinder nicht, was dieses „Land“ ist. Ada schafft es in einer Gewaltanstrengung bis in den Zug für die Evakuierung. Bei der Verteilung der  Stadtkinder auf Pflegefamilien am Zielort bleiben Ada und Jamie übrig und werden der alten Susan Smith zugeteilt, die auch auf keiner Liste steht.

Jamie gibt gleich die Parolen seiner Mutter aus: Ada bleibt im Haus, geht nicht zur Schule und Schuhe braucht sie daher schon gar nicht. Susan Smith hat allerdings andere Vorstellungen und betont, Kopf und Füße wären so weit voneinander entfernt, dass ein verdrehter Fuß keinen Einfluss auf Adas Leben haben sollte. Ada hat inzwischen aus dem Fenster das Pony auf Susans Weide erblickt, sowie eine jugendliche Reiterin – und weiß sofort; das ist die Freiheit, von der sie nicht zu träumen gewagt hätte. Etwas zu märchenhaft gelingt es ihr durch Versuch und Irrtum, Pony Butter aufzutrensen und sich kurz auf seinem Rücken zu halten. Jamie hat indessen seine Entdeckerkarriere wieder aufgenommen und sich mit den Piloten auf dem nahgelegenen Militärflugplatz angefreundet. Während Ada sich weiter wertlos fühlt, stets verängstigt, Susan könnte sie wieder zurückschicken, und Jamie in der ersten Schulklasse eine Begegnung mit einer Lehrerin der unfähigeren Art hat, rückt der Krieg näher mit Lebensmittelrationierung, Bombenangriffen und einer Flut verwundeter und sterbender Soldaten, die aus Dünkirchen an die nahegelegene Südküste Englands evakuiert werden. In all dem Leid erweist sich „Ich-bin-nicht-nett“-Susan als Naturtalent einer Pflegemutter, die selbst schwer an der Trauer um ihre Freundin Becky zu tragen hat.
 
Vom eingesperrten Stadtkind, das die simpelsten Wörter für Alltagsdinge erst lernen muss, entwickelt sich Ada zu einem Mädchen, dass durch die Kriegserlebnisse extrem schnell reifen muss. Nicht nur Ada, Jamie und Susan zeigen ungeahnte Talente, sondern auch der 13-jährige Steven, der auf dem Land über sich herauswächst, und Fred, der Pferdeknecht der Thorntons, von dem Ada alles über Pferde lernt und der an einem verkrümmten Fuß nicht Schlimmes finden kann. Schließlich fertigt man Pferden mit missgebildeten Füßen auch einfach Spezialschuhe an.

Ein historischer Jugendroman mit hinreißenden Figuren, spannenden Abenteuern und gravierenden kindlichen Ängsten, der rückblickend von der inzwischen ein paar Jahre älteren Ada in der Ichform erzählt wird. Kimberley Brubaker Bradleys Themen sind der Zweite Weltkrieg, Hilflosigkeit gegenüber einer behandelbaren Körperbehinderung (Klumpfuß), Pflegekinder, Trauer, Pferde (!) und Ängste aller Art. Die Autorin hat mich als Leser:in erfolgreich eingefangen, weil ich mich gern von Menschen mit unentdeckten Talenten fesseln lasse.
 
Altersempfehlung
Das englische Original wird von dessen Verlag ab 9 Jahren empfohlen, die deutsche Ausgabe ab 11, eine Content Note wegen expliziter Kriegsereignisse halte ich für angebracht.