Rezension

Kriegsroman mit vielen Klischees

Der Gott jenes Sommers - Ralf Rothmann

Der Gott jenes Sommers
von Ralf Rothmann

Bewertet mit 3 Sternen

Mit zwiespältigem Gefühl bleiben wohl viele Leser nach Lektüre des im Mai bei Suhrkamp erschienenen Romans „Der Gott jenes Sommers“ von Ralf Rothmann zurück. Immerhin war der vorangegangene, in 25 Sprachen übersetzte Band „Im Frühling sterben“ (2015) über die Dramen am Rande der Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges ein viel gelobter Bestseller, weshalb die Erwartungen an diesen Folgeband vielleicht zu hoch waren.

„Der Gott jenes Sommers“ beschreibt am Beispiel einer Familie und ihres Umfeldes in Schleswig-Holstein das Alltagsleben wohl vieler Deutscher in den letzten Kriegsmonaten vor dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches – ein Leben voller Verblendung und Denunziation, von Verzweiflung und einem Dasein nach dem Motto „Rette sich, wer kann“. Die Handlung wird aus Sicht der 12-jährigen Luisa Norff geschildert, die nach Bombardierung ihrer Heimatstadt Kiel im Frühjahr 1945 mit Eltern und 19-jähriger Schwester Billie auf das nahe Gut geflohen ist, das ihrem Schwager Vinzent, einem hochrangigen SS-Offizier, gehört, der mit Luisas wesentlich älteren Halbschwester Gudrun aus Mutters erster Ehe verheiratet ist. Hier versucht Luisa die letzten Monate ihrer Kindheit an der Grenze zur Pubertät zu genießen. Der Alltag auf dem Gutshof, verwaltet vom Ehepaar Thamling, geht abseits des Kriegsgeschehens noch seinen üblichen Gang. Nur aus ihrem Fenster sieht Luisa das brennende Kiel. Beim verbotenen Durchstreifen des Waldes erkennt sie in einem Barackenlager verhärmte Gestalten – Kriegsgefangene, die zum Torfstechen versklavt sind; nach Kriegsende wird man dort ein Massengrab finden. Immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten werden in Nebengebäuden, Ställen und Scheunen auf dem Gutshof untergebracht. Täglich neue Beobachtungen lassen bei der Zwölfjährigen, die sich in die Welt der Bücher flüchtet, immer wieder Fragen aufkommen, auf die sie nur ansatzweise oder keine Antworten erhält.

Beeindruckend im Sprachstil beschreibt der 1953 in Schleswig geborene Autor die Lebensumstände letzter Kriegsmonate in seiner Heimat Schleswig-Holstein. Doch wirkt das Erzählte auf ältere und erfahrene Leser ziemlich abgedroschen. Rothmann verarbeitet allseits bekannte Klischees sowohl in seinen Charakteren als auch in geschilderten Situationen wie jenem Tanzabend in der einst Juden gehörenden Prunkvilla des Nazi-Schwagers Vinzent: Wehrmachtsoffiziere und Nazi-Größen offenbaren hier, den eigenen Untergang vor Augen, den Verlust jeglicher Moral. Ähnlich dekadente Szenen und Stimmungsbeschreibungen sind allzu bekannt aus früherer Literatur oder Filmen. Auch die in dieser Szene zitierte Aufforderung "Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich", ein unter NS-Funktionären damals geläufiges und viel zitiertes Motto, ist längst abgedroschen. Insofern bietet Rothmanns Roman dem älteren Leser nichts Neues, allenfalls vielleicht jüngeren Lesern.

Ein interessanter Baustein ist allerdings der fiktive, von Rothmann kapitelweise eingestreute Bericht des Schreibers Bredelin Merxheim in barockem Deutsch über die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648). Merxheim lässt inmitten der Kriegswirren eine Kapelle bauen, um seinen nach Brandschatzung, Raub, Mord und Vergewaltigung verlorenen Mitmenschen in Gott wieder einen Halt zu geben. Auch Luisa Norff will nach Ende der Schreckensjahre im Kloster Halt finden und Nonne werden: An ihrem erst 13. Geburtstag ist das junge Mädchen überzeugt, nach dem Mord am britischen Piloten, der Hinrichtung des Schwagers, dem Selbstmord des Vaters, dem Verschwinden der Schwester und ihrer Vergewaltigung durch den eigenen Schwager das weltliche Dasein bereits in allen Facetten gelebt und erlebt zu haben.