Rezension

Leise Töne mit einer beeindruckenden Wirkung

Die Mitte von allem - Anna Shinoda

Die Mitte von allem
von Anna Shinoda

Bewertet mit 5 Sternen

Klappentext

Clare liebt ihren Bruder Luke über alles – er ist ihr strahlender Held, mit dem sie Abenteuer erlebt, der ihr das Schwimmen beibringt und der sie beschützt. Seit ihrer Kindheit sitzt Luke jedoch immer wieder im Gefängnis. Als er nun nach vier Jahren frühzeitig entlassen wird, hofft sie, dass er sich dieses Mal geändert hat. Aber bald darauf wird Luke erneut verhaftet. Während Clares Eltern versuchen, den schönen Schein zu wahren, und Luke immer wieder mit offenen Armen empfangen, beginnt Clare, an seiner Unschuld zu zweifeln. War er nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Als Clare schließlich selbst in Lukes Machenschaften hineingezogen wird, will sie wissen, wer ihr Bruder wirklich ist. Sie geht der Vergangenheit auf den Grund. Doch was sie dort findet, übertrifft ihre schlimmsten Befürchtungen.

Meine Meinung

Das Cover wäre eigentlich nicht meine erste Wahl und auch der Klappentext spricht Themen an, denen ich mich ungern widme, da ich beim Lesen entspannen und Spaß haben will. Aber manchmal bin ich in der Stimmung für genau so eine Geschichte und es gibt vom ersten Moment an eine unerklärliche Faszination, noch bevor ich das Buch gelesen habe.

Clare ist 17 und sie erzählt dem Leser ihre Geschichte. Dabei wechselt sie von der Gegenwart in die Vergangenheitsform, je nachdem, ob sie das aktuelle Geschehen beschreibt oder Szenen aus der Vergangenheit reflektiert. Ich hab jetzt bewusst das Wort "reflektiert" genommen, denn ihre Erinnerungen an die Kindheit sind nicht immer das, was sie scheinen. Sie hat viel verdrängt von einer Wahrheit, die sie nicht sehen, nicht verkraften konnte - und durch ihre Eltern hatte sie auch nie die Chance, es zu verarbeiten.

~ Clare ist ein junges, sympathisches Mädchen, das erwachsen werden will und endlich aus dem "Gefängnis" ausbrechen, mit dem ihre Familie sie umgibt. Hoffnungen und Enttäuschungen haben ihre Kindheit begleitet, denn ihre großen Brüder haben Widersprüche in ihr ausgelöst, die nicht so leicht wegzustecken sind. Sie versucht alles, um diese Fassade ihrer "kleinen heilen Welt" aufrecht zu erhalten und ist doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

~ Peter ist vier Jahre älter und sein Verhalten ihr gegenüber wechselt von dem typischen Geschwisterstreitigkeiten bis hin zu richtigen Gemeinheiten. Es scheint nur wenige Momente zu geben, die ihr positiv in Erinnerung geblieben sind.

~ Luke hingegen ist schon 12 Jahre älter als sie und das Sorgenkind der Familie. Erlebt hat Clare ihn immer als ihren Retter, ihren Fels in der Brandung, den Spaßmacher, der sich um sie kümmert und sie zum Lachen bringt. Warum Luke allerdings immer wieder ins Gefängnis wandert, wird nur angedeutet und man erlebt zusammen mit Clare, wie sehr das ganze sie selbst und natürlich auch die Familie belastet.

Allerdings ist es nicht so sehr der Umstand, dass Luke auf die schiefe Bahn geraten ist; die Eltern sind hier so dermaßen fixiert darauf, den Schein zu wahren und alles totzuschweigen, dass weder Clare noch Peter eine Möglichkeit haben, sich mit der Situation zurecht zu finden.
Die Mutter kann mit ihrer Enttäuschung von Luke und ihren Zweifeln an sich selbst nicht umgehen - sie lässt alles an ihrer Tochter aus und gestattet ihr kaum Freiraum. Ihr Leitsatz "Müßiggang ist aller Laster Anfang" begleitet das Mädchen schon ihr ganzes Leben lang und am liebsten hätte ich sie oft gepackt und geschüttelt und ihr die Meinung gesagt, wie unfair und schrecklich sie mir ihren Kindern umgeht.
Der Vater ist ihnen auch keine wirkliche Hilfe, denn er verschließt vor allem die Augen und lässt Luke zu dem werden, der die Familie zerbrechen lässt: die Mitte von allem.

Es ist eine ruhige Geschichte, die scheinbar nur vor sich hinplätschert und die großen Gefühle eher unscheinbar und subtil an einem vorüberziehen lässt. Dafür ist die Wirkung um so eindrucksvoller, wenn man die Nachwirkungen spürt und während dem Lesen war ich oft hin- und hergerissen zwischen Wut, Mitgefühl, Respekt, Fassungslosigkeit und dem Erschrecken, zu welchen Handlungen die Menschen durch ihre Gefühle getrieben werden können.

Es ist kein Thema, über das viel gesprochen wird - denn was passiert wirklich innerhalb einer Familie, in der ein Kind "ausbricht" und straffällig wird. Die Autorin hat mit viel Sensibilität und Einfühlungsvermögen gezeigt, welche ehrlichen und verworrenen Gefühle hier mitspielen. Scham, Liebe, die Verzweiflung im Glauben, das alles wieder gut wird und wie gefangen jeder in diesem Kreislauf ist, aus dem es kaum ein Entkommen gibt.

Fazit

Die Probleme einer Familie mit einem straffälligen Jugendlichen werden hier in einer sehr berührenden und behutsamen Weise erzählt, die die gravierende Wirkung dadurch umso deutlicher hervorhebt und betroffen macht. Die Geschichte ist mir sehr zu Herzen gegangen.

© Aleshanee
Weltenwanderer