Rezension

Loslassen und ein Neubeginn

Alle meine Kinder - Herrad Schenk

Alle meine Kinder
von Herrad Schenk

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ika Beaufort steht vor den offenen Türen ihres Schranks und versucht sich von vielen Dingen zu trennen, aber alles ist mit Erinnerungen belastet und diese Erinnerungen wiegen schwer. Sie taucht in Gedanken in die Vergangenheit ein, ihre Dreiecksbeziehung über viele Jahre, die ihre Partnerschaft wohl doch schwerer belastet hat, als gedacht. Der lange Loslösungsprozess von ihrem Geliebten und vor allem der Schwangerschaftsabbruch, der kurz danach einem leidenschaftlichen Kinderwunsch auslöste, der sich auf natürlichem Weg nicht erfüllen wollte.

Ika ist eine Frau fast Ende der Sechzig. Zusammen mit ihrer langjährigen Freundin wollte sie sich in einer neuen Wohnung inmitten der Stadt neu finden. Raus aus dem viel zu großen Haus und dem riesigen Garten, ein Neuanfang ohne den Ballast der Vergangenheit, ganz abgesehen von den praktischen Erwägungen – wie Ärzte, Geschäfte und Kultur in unmittelbarer Nachbarschaft. Doch Hilde verstirbt unerwartet und Ika muss nun allein den Neuanfang wagen.

Das Buch wird durch die Rückblicke interessant. Ika ist ein Kind ihrer Zeit, aufgewachsen als die Pille den Frauen neue Freiheit gewährte, als Partnerschaften und Sexualität neu definiert wurden. Die Beziehungen waren offen und Seitensprünge wurden diskutiert und toleriert.  Dieses Zeitbild hat mir ausgesprochen gut gefallen, ich kenne vieles aus eigenem Erleben und die Schilderung hat mich zurück katapultiert in diese Zeit. Die Hauptfigur Ika ist mir sehr nahe gekommen, ja sie war mir sympathisch, wenn ich auch manche ihrer Handlungen nicht gut fand. Fast hatte ich das Gefühl, ich müsste es jetzt mir ihr ausdiskutieren. Das spricht für die lebensnahe Charakterisierung.

Die ausufernden Schilderungen der Reproduktionsmedizin fand ich allerdings zu viel. Nicht jeder vergebliche Zyklus hätte in dieser Ausführlichkeit geschildert werden müssen. Wenn ich noch einmal den Begriff „Follikel“ lese, schreie ich – diese Empfindung drängte sich mir beim Lesen auf.
Der  verhalten optimistische Schluss hat mich dann aber versöhnt und über diese Klippe getragen.

Das Buch hat mich berührt, ich bin der Hauptfigur fast immer gern in ihren Erinnerungen gefolgt.